Zehn Jahre nach dem Blitz
Führers, in lautes Jubelgeschrei aus. Die Gefühlsbetontheit der Szene – der Führer, der angesichts dieser absurden Liste (er sollte später buchstäblich jede einzelne der genannten Nationen systematisch überfallen) von gewaltiger Belustigung geschüttelt wurde, die Hochrufe der Anhänger ... Joseph Adams sah und hörte das alles und spürte in seinem Innern einen Widerhall der Hochrufe, eine höhnische Freude mit Hitler – und gleichzeitig verspürte er schlichte, kindliche Verwunderung angesichts der Tatsache, daß diese Szene sich je wirklich hatte ereignen können. Und sie hatte sich ereignet. Dieser Ausschnitt aus der ersten Episode der Filmfassung A war – seltsam genug, wenn man seine widersinnige Natur betrachtete – authentisch.
Ah, aber jetzt zeigte sich die wahre Kunst des Filmemachers von 1982. Die Szene im Reichstag wurde verschwommen, und ein anderes Bild tauchte auf und wurde immer deutlicher. Es zeigte hungrige, hohläugige Deutsche während der Depression der Weimarer Republik in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung. Arbeitslos. Mittellos. Verloren. Eine zerstörte Nation ohne Hoffnung.
Der Begleittext, die schnurrende, aber feste Stimme des erfahrenen Schauspielers, den Gottlieb Fischer engagiert hatte – Alex Sourberry oder so ähnlich war sein Name – schwoll an, fügte dem Gesehenen seine hörbare Präsenz als Interpretation hinzu. Und der Bildteil bestand jetzt aus einer Szene auf dem Meer. Die britische Marineflotte, wie sie ihre Blockade noch ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aufrechterhielt; wie sie eine Nation, die sich schon längst ergeben hatte und nun vollkommen wehrlos war, so aushungerte, daß sie zu dauerhafter Verkümmerung verdammt war.
Adams hielt den Bildapparat an, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an.
War es wirklich notwendig, daß er sich die selbstsichere schnurrende Stimme Alexander Sourberrys anhörte, um die Botschaft der Dokumentarfassung A zu verstehen? Mußte er sich die fünfundzwanzig einstündigen Episoden alle ansehen, um sich dann, wenn die Qual vorüber war, der ebenso langen und verworrenen Fassung B zuzuwenden? Er kannte die Botschaft. Alex Sourberry in der Fassung A, irgendein, Sourberry ebenbürtiger, ostdeutscher Schauspieler in der Fassung B. Er kannte beide Botschaften ... denn so, wie es zwei deutlich unterschiedene Fassungen gab, verkündeten sie auch zwei deutlich unterschiedene Botschaften.
In dem Augenblick, als der Bildschirm erloschen war, was Adams eine Atempause verschaffte, für die er Gott dankte, war Sourberry gerade im Begriff gewesen, eine erstaunliche Tatsache aufzuzeigen: eine Verbindung zwischen zwei Szenen, die in der Geschichte über zwanzig Jahre auseinanderlagen. Nämlich zwischen der britischen Blockade im Jahre 1919 und den Konzentrationslagern von 1943 mit ihren ausgemergelten, sterbenden, mit Fetzen bekleideten Insassen.
In Gottlieb Fischers revidiertem Geschichtsverständnis waren es die Briten, die Buchenwald zu verantworten hatten. Nicht die Deutschen. Die Deutschen waren die Opfer, 1943 ebenso wie 1919. Eine spätere Szene der Fassung A würde Einwohner von Berlin 1944 zeigen, wie sie die Wälder um Berlin auf der Suche nach Brennesseln für die Zubereitung von einer Suppe durchstreiften. Die Deutschen waren am Verhungern; ganz Kontinentaleuropa, alle Menschen innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager« verhungerten. Wegen der Briten.
Wie klar das alles auf der Hand lag, wurde das doch in allen fünfunfzwanzig, gekonnt zusammengestückelten Episoden immer wieder eindringlich verkündet. So lautete die offizielle Geschichte des Zweiten Weltkrieges – zumindest für die Bewohner von Wes-Dem.
Warum sollte ich es weiterlaufen lassen? fragte sich Adams, während er, mit vor körperlicher und geistiger Erschöpfung zitternden Händen, an seiner Zigarette sog. Ich weiß, wie es weitergeht. Daß Hitler gefühlsbetont, sprunghaft, launisch und unausgeglichen war, aber natürlich log der Film, das war nur selbstverständlich. Denn eigentlich war er schlicht und einfach ein genialer Geist. Wie Beethoven. Und wir alle bewundern Beethoven; man muß einem so bedeutenden, genialen Menschen seine Überspanntheiten verzeihen. Zugegebenermaßen war Hitler allerdings in psychotische Wahnvorstellungen verfallen ... getrieben durch das Unvermögen der Engländer, die wahre Bedrohung durch das stalinistische Rußland zu begreifen und zu erfassen. Die Besonderheiten der Wesenszüge Hitlers
Weitere Kostenlose Bücher