Zehn Milliarden (German Edition)
einladen zu lassen. Als vermeintliche Journalistin fiel auch nicht weiter auf, dass sie ihm ein Loch in den Bauch fragte.
»Mit einem Boot, sagen Sie?«
»Erstaunlich, nicht wahr? Ich bin überzeugt, er hat sie mit seinem Boot rumgekriegt, seine schöne Julie.«
»Wenn sein Boot hier ist, kann er doch auch nicht allzu weit sein. Wo ist er denn jetzt, was macht er, warum hat er hier aufgehört?«
»Viele Fragen«, lachte Bob. »Ich fange hinten an. Der Grund, warum er hier aufgehört hat, ist wieder diese Frau. Julie ist eine ...« Er brach unvermittelt ab, denn vom Eingang her sah er seine Chefin Kate aufgeregt winkend auf sie zukommen.
»Bob, du solltest raufkommen. Die Hochvakuumkammer ist defekt.« Er blickte sie verständnislos an, doch sie hatte keine Zeit für lange Erklärungen. »Wir brauchen dich, jetzt, sofort.« Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und sich bei der attraktiven Journalistin zu entschuldigen. Als sie die Cafeteria verlassen hatten, wollte er endlich wissen, was los war.
»Was los ist? Du hast mit einer falschen Journalistin gesprochen, die dich über Nick aushorchen will, das ist los. Ihr Männer fällt doch auf jede stramme Titte herein. Ich weiß nicht, was die Frau will, Bob, aber jedenfalls sollten wir ihr nicht allzu viel auf die Nase binden.«
Grace Morgan verließ das Gebäude trotz des abrupten Endes ihrer Unterhaltung in bester Laune. Auch wenn sie noch nicht wusste, wo sich der Gesuchte aufhielt, so könnte sie doch heute Abend ein beachtliches Dossier nach Vegas schicken; und ihr Freund John zahlte gut.
KAPITEL 6
Lausanne
A ls wäre die Zeit stehen geblieben , dachte Emily, als sie aus dem Fenster ihres Turmzimmers auf den ruhigen See blickte. Der verwunschene, etwas verwilderte Garten zu ihren Füssen; das unter Haselsträuchern und alten Buchen versteckte Bootshaus; der Schwarm winziger weißer Segelschiffe auf dem azurblauen Wasser vor dem Hafen von Pully; das mächtige schneebedeckte Massiv der Savoyer Alpen im Dunst jenseits des Genfersees. Alles noch genauso wie am Tag, als sie wütend von zu Hause ausgezogen war. Selbst ihr Zimmer im obersten Geschoss der elterlichen Villa schien niemand angerührt zu haben in all den Jahren. Alles lag noch an derselben Stelle, als wäre sie nur kurz im Pool schwimmen gewesen. Vielleicht sollte sie die Jahre dazwischen einfach vergessen, sie ignorieren, als Illusion, als nicht geschehen betrachten. Doch so einfach war das nicht. Sie war müde. Nach einem letzten, wehmütigen Blick in die sonnige Landschaft ging sie ins Badezimmer, ließ das Wasser einlaufen und wartete bis die Wanne beinahe voll war. Ihr seidener Morgenrock glitt zu Boden, sie ließ sich ins warme Wasser sinken und schloss die Augen. Lange blieb sie reglos liegen, dann griff sie nach der bereitgelegten Rasierklinge. Zwei schnelle Schnitte, die sie kaum spürte, und sie ließ die Arme wieder ins Wasser sinken, das sich sofort blutrot zu färben begann.
»Nick, altes Haus, du hast uns also nicht vergessen. Welche Ehre.« Sein ehemaliger Kommilitone und Forscherkollege deutete eine linkische Verbeugung an. Vor seinem Exodus nach Kalifornien hatte Nick ein Jahr mit Paul und fünf weiteren Wissenschaftlern am Blue Brain Projekt gearbeitet. Sein Besuch hier im langgestreckten Gebäude BM auf dem ausgedehnten Campus der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, EPFL, erschien ihm wie eine Zeitreise zurück in eine längst vergangene Epoche, obwohl er erst vor fünf Jahren weggezogen war. Es tat gut, nach den dramatischen Ereignissen in Amsterdam wieder alte Freunde zu treffen und zu fachsimpeln. Das Projekt seiner Kollegen musste gewaltige Fortschritte gemacht haben, denn fünf Jahre waren eine sehr lange Zeit in der schnelllebigen Welt der biologischen und physikalischen Forschung. In gewisser Weise unterschied sich seine Arbeit bei NanoClin gar nicht so sehr von den Aufgaben, die das Blue Brain Projekt lösen sollte. Seine Kollegen an der EPFL wollten verstehen lernen, wie das menschliche Gehirn funktioniert, indem sie die biologische Funktion der fundamentalen Bausteine, der Neuronen, in einer hochkomplexen Computersimulation möglichst genau nachbildeten. Diese simulierten Hirnzellen sollten dann miteinander wechselwirken, wie das ihre natürlichen Vorbilder in den Gehirnen aller Säugetierarten taten, soweit bekannt war. Sie sollten sich zu kortikalen Kolonnen zusammenschließen, in denen 10'000 Zellen eng miteinander kommunizierten und
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