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Zehn Milliarden (German Edition)

Zehn Milliarden (German Edition)

Titel: Zehn Milliarden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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richtig, aber jetzt kommt’s. Einer der Mitarbeiter des Professors greift zufällig selbst nach einer Rosine und wird dabei vom Affen beobachtet. In diesem Augenblick feuern die gleichen Neuronen, die sich vorher nur geregt haben, als das Tier selbst zugegriffen hat.« Nick brauchte einige Sekunden, bis er begriff, was das bedeutete.
    »Der Affe hat den Griff zur Rosine simuliert?«
    »Das ist genau, wie wir diese verblüffende Beobachtung interpretieren. Professor Rizzolatti und sein Team haben an diesem Tag ein Phänomen entdeckt, das wir inzwischen als Spiegelneuronen bezeichnen. Beim Menschen ist diese Fähigkeit noch viel stärker ausgeprägt als bei Affen oder anderen Tieren. Die Spiegelneuronen unseres Hirns beschränken sich nicht auf die bloße Nachahmung von Gesten und Bewegungen, sondern sie empfinden auch Emotionen, gar Schmerz, wenn unsere Sinne diese Empfindungen bei anderen Menschen beobachten. Menschen können sich ekeln, wenn sie sehen, wie sich andere Menschen ekeln. Auch Mitgefühl und Mitleid sind nicht abstrakte Konzepte, sondern physiologische Realität, Nick. Es gibt nicht wenige Fachleute, die annehmen, dass diese einmalige Fähigkeit zur Spiegelung unserer Umwelt der eigentliche Schlüssel für die Entwicklung unserer Sprache und Kultur ist.« Nick hatte dem letzten äußerst weitreichenden und irritierenden Teil von Vics Vortrag nicht mehr zugehört. Als Physiker stach ihm sofort der potenzielle praktische Nutzen dieser Spiegelneuronen ins Auge.
    »Es müsste also möglich sein, Bewegungen und das Verhalten von Menschen mit gesunden Gliedern durch die Emulation solcher Spiegelneuronen einfach zu erlernen und die Signale an die Prothesen weiterzugeben?«
    »Einfach wird das nicht, aber ich denke, es ist möglich.«
    »Unsere Bots lernen wie unser Hirn es vormacht - sehr elegant. Vic, das gefällt mir.« Nicks trübseliger Gesichtsausdruck war einem heiteren Grinsen gewichen. Er hatte ein gutes Gefühl bei dieser Sache. Das musste der Schlüssel zur Lösung ihres Problems sein. Er streckte sich, trat ans Fenster und schaute auf die Bucht hinaus. Als sein Blick auf die am Steg vertäute Emily 2 fiel, fragte er unvermittelt: »Hat Emily sich bei dir gemeldet?« Vic hätte sich beinahe am kalten Kaffee verschluckt. Er räusperte sich umständlich, bevor er antwortete.
    »Nein - doch - eine Mail. Sie hat mir ihre neue Telefonnummer durchgegeben.« Er vermied es, Nick dabei anzusehen. Der schüttelte missbilligend den Kopf.
    »Die Telefonnummer! Vic, hast du auch nur eine leise Vorstellung, was das bedeutet? Du bist der brillanteste Wissenschaftler, den ich kenne, aber wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, bist du genauso ein Stümper wie meine Schwester.«
    »Es war nur eine Telefonnummer, was soll das?«, entgegnete Vic gereizt.
    »Ja klar, aber weißt du was? Du bist immer noch schwer in Emily verliebt und du vermisst sie.« Sein Freund wollte protestieren, aber er schnitt ihm das Wort ab. »Und sie denkt an nichts anderes als an dich, das kannst du mir glauben. Meine Spiegelneuronen haben das unzweifelhaft festgestellt, Doctor.« Er hatte sich etwas in Rage geredet, aber Vic schien die kurze Standpauke nötig gehabt zu haben. Jedenfalls blickte er ihn lange nachdenklich an, ohne weiter zu protestieren. Er kämpfte offensichtlich mit seinen widersprüchlichen Gefühlen, seiner Unsicherheit. Schließlich warf er den zerknüllten, leeren Becher wie üblich neben den Papierkorb und sagte mit fester Stimme:
    »Deine Spiegelneuronen haben recht. Ich rufe sie an.« Er schaute auf die Uhr. »Jetzt.« Und er verließ das Arbeitszimmer. Nick sah, wie er sich am Strand auf einen Felsblock setzte und sein Telefon hervorholte. Endlich , dachte er mit einem Seufzer der Erleichterung.
    Vic zögerte kurz, bevor er die Ruftaste drückte. Emilys neue Nummer hatte er automatisch in den Speicher seines Telefons übertragen, sobald ihre Mail eingetroffen war. Seit seiner Flucht hatte er sich stets so verhalten, als wären sie beide noch ein Paar, hatte sich jedes kleinste Lebenszeichen Emilys eingeprägt, jedes ihrer Worte archiviert, wieder und wieder betrachtet und interpretiert. Ganz klar, Nick hatte nur ausgesprochen, was er schon lange wusste: sie beide gehörten zusammen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er ihr nach der langen Zeit sagen wollte, oder besser, wie er all das sagen sollte, was ihm auf der Zunge lag. Er drückte die Taste, bevor die Zweifel und die nackte Angst ihn

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