Zehn zärtliche Kratzbürsten
Sonja zu entkleiden und sich zu ihr zu legen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass die betrunkene alte Journalistin vermutlich keine männliche Gesellschaft brauchen konnte. Er räumte den restlichen Kaviar und die anderen Delikatessen in den Kühlschrank, überzeugte sich, dass in der Wohnung alles in Ordnung war, legte unter die leere Champagnerflasche zwei Fünfhundertmarkscheine und schrieb einen kleinen Zettel, auf dem er Sonja aufforderte, sich für das Geld neuen Champagner zu kaufen. Normalerweise bezahlte Rauno seine Frauen nicht, aber trinkende Freunde waren etwas anderes. Ihre Gewohnhe i ten kosten schließlich bekanntermaßen viel Geld.
Rauno küsste seine schlafende Freundin sanft auf die Wange und verließ dann geräuschlos die Wohnung. Zum Glück hatte er seinen Frack rechtzeitig vor dem Beischlaf abgelegt, sodass er noch in ordentlichem Zustand war. Der Schal und die Lackschuhe vervol l ständigten das seriöse Gesamtbild, als der Industrierat die sechs Treppen hinunterging und auf die Iso Roobertinkatu trat.
Sein Handy schmetterte ein paar Takte der Säkkijärvi-Polka. Ra u no ärgerte sich ein wenig, dass er seinerzeit als Klingelton diese Rummelmusik gewählt hatte, aber er hatte es später einfach nicht mehr geändert. Seine Frau Annikki schickte ihm eine Nachricht:
Eveliina Mäki aus deiner Firma ist erkrankt, sie hat angerufen und gejammert. Du solltest sie kontaktieren. Küsschen, Annikki.
Eveliina Mäki? Eine Frau dieses Namens war bei ihm beschäftigt? Und sie rief gleich den obersten Chef an? Ja, es war in seiner Firma seit jeher üblich, dass die Mitarbeiter unbedenklich mit jedem über ihre Angelegenheiten und Probleme reden konnten, auch mit dem Besitzer und Chef des Konzerns.
Industrierat Rämekorpi strengte sein Gedächtnis an. Ihm fiel eine junge, vielleicht dreißigjährige Frau ein, die in der Schweißerei arbeitete. Ja, er war Eveliina schon oft begegnet, sie war eine tücht i ge Metallarbeiterin, war manchmal auch auf Marketingveranstaltu n gen dabei gewesen, um Proben ihres Könnens zu zeigen. Eine gesund und blühend aussehende Frau, und jetzt war sie also krank geworden. Hoffentlich nichts Ernstes, sagte sich Rauno und wählte die Nummer, die ihm seine Frau geschickt hatte.
Eveliina: Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich dich b e müht habe, aber mein Herz macht mir zu schaffen. Gestern bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich wohl untersuchen lassen muss, ich habe mich während des ganzen Sommers schlecht gefühlt.
Rauno Rämekorpi sagte, dass man Herzgeschichten immer ernst nehmen müsse, und er versprach, Eveliina aufzusuchen, sie könnten reden und gemeinsam überlegen, was zu tun sei. Er rief Seppo Sorjonen an.
Rauno: Ich hätte wieder eine Fahrt, bist du noch daran interessiert, Kilometer zu schinden, oder machst du lieber blau?
Sorjonen: Wieder zu einer Frau?
Rauno; Ja, eine Mitarbeiterin aus meiner Firma ist ein bisschen krank.
Eine Viertelstunde später traf Sorjonens Taxi in der Iso Roobertinkatu ein. Rauno Rämekorpi stieg ein. Hinten im Wagen lagen immer noch mehrere große Blumensträuße. Sorjonen sagte, er habe sie gewässert, deshalb sahen sie immer noch aus wie frisch gepflückt. Der Duft im Wagen war berauschend. Sorjonen erzählte, er habe mit seiner Freundin Kaviar und Sekt zum Abendessen genossen. Beides wollte er dem Industrierat bezahlen, aber Rauno verzichtete aufs Geld.
Sie verließen das Stadtzentrum. Rauno Rämekorpi hatte in den vergangenen Stunden nicht eben wenig geleistet, aber wunderbare r weise war er immer noch gut in Form. Viele Sechzigjährige sind in Aussehen und Gebaren schon fast Opas, aber Rauno spürte zu seiner Freude, dass er immer noch äußerst vital war, keine Spur vom herannahenden Alter. Prima …, und nach Hause zog es ihn noch lange nicht.
Rauno: Hast du Zeit, mich weiter herumzukutschieren, falls sich die Dinge entsprechend entwickeln?
Sorjonen: Meinetwegen die ganze Woche.
Eveliina hatte als Adresse die Gartenanlage Marjaniemi nahe dem Itäkeskus angegeben. Dorthin also. Das Auto mussten sie auf dem Parkplatz abstellen, nur Rettungsfahrzeuge durften die schmalen Wege des Geländes benutzen. Sie hatten hübsche Namen: Apfelweg, Birnenweg, Cidresteg. Am Metalltor standen der Name der Anlage und das Gründungsjahr: 1946. Der Verkehr auf der östlichen Au s fallstraße war als gleichmäßiges Rauschen zu hören. Ein Kanal mit schnell strömendem Wasser durchquerte das Gartengebiet, Enten schwammen
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