Zehn zärtliche Kratzbürsten
behandeln ließe. Rauno forderte sie auf, am Montag einen Termin in einer Privatklinik zu vereinbaren. Er schielte wieder aufs Bücherregal mit den Leninschen Werken. Fast hatte er Lust, Eveliina zu fragen, was der Onkel Lenin wohl dazu sagen würde, dass ein Ausbeuterkapitalist ihre Behandlung in einer Privatklinik finanzierte. War es nicht Aufgabe der Gesellschaft, für die Gesundheit jedes ihrer Mitglieder zu sorgen und ihm auch ein angemessenes Wohnen zu ermöglichen? Doch ihm schien jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein, über Politik zu diskutieren.
Er gab zu bedenken, dass es in dem Häuschen bald kalt werden würde, wenn der Winter kam.
Eveliina verriet ihm, dass es in der Kolonie etliche Leute gab, die auch im Winter hier wohnten, sogar ganze Familien, obwohl es im Prinzip verboten war.
Rauno Rämekorpi erklärte, dass seine Firma für Eveliina eine a n ständige Wohnung besorgen werde, nachdem ihre Herzprobleme untersucht und behandelt worden seien.
Eveliina: Es ist ganz schrecklich für mich, dass ich den Chef um Almosen bitten muss.
Die Stimmung war gedrückt. Rauno Rämekorpi öffnete die Champagnerflasche und bat um zwei Gläser. Wie wäre es mit einem Schluck vom Festtagsgetränk?
Aus seinen harten Jugendjahren wusste Rauno, dass arme Leute ein extrem verletzliches Ehrgefühl hatten. Je weniger Geld sie besaßen, desto empfindlicher reagierten sie auf Zuwendungen aller Art, so wie jetzt Eveliina. Ein Reicher schätzt das Geld lange nicht so wie ein Armer . Rauno musste sehr zartfühlend vorgehen, wenn er Eveliina in ihren Schwierigkeiten helfen wollte.
Er erzählte, dass er mit dem Taxi gekommen sei. Der Wagen wa r te auf dem Parkplatz vor der Gartenanlage, und darin lagen allerlei Delikatessen, aber er habe inzwischen genug zum Beispiel vom Kaviar, den er bis zum Überdruss in sich hineingelöffelt habe. Jetzt stehe ihm der Sinn nach etwas Alltäglicherem. Eve li ina machte ein paar Brote mit Hering zurecht. Zu der Kombination aus Champagner und leichtem Schwips passte der Salzfisch besser als Gänseleber oder Kaviar.
Das deftige Brot schmeckte Rauno, und er bat um ein zweites. Der Champagner stieg ihm erneut rasch zu Kopf. Eveliina sagte, dass sie nicht daran geglaubt habe, dass Rauno einer gewöhnlichen Arbeiterin helfen würde. Sie habe nie zuvor echten Champagner mit einem reichen Industrierat getrunken. Wenn ihre Eltern noch leben würden und die Tochter in Gesellschaft des Chefs sehen könnten, würden sie staunen oder vielleicht böse sein, dass ihre einzige Tochter sich mit einem großen Boss abgibt. Ihr ganzes Leben lang hatte Eveliina die Fahne der Arbeiterbewegung hochgehalten, war bei Demonstrationen mitmarschiert, hatte für die Frauenrechte Stellung bezogen und bei den Wahlen immer für das linke Bündnis und die Frauen gestimmt.
Rauno warf ein, dass jetzt ja sogar eine Frau Staatspräsidentin sei, zudem handle es sich um Eveliinas ehemalige Gartennachbarin. Und sie sei außerdem eine Linke. Er selbst behauptete von sich, sein ganzes Leben lang ein echter Arbeiter gewesen zu sein. Er finde es nicht falsch, wenn wenigstens mal einer von ihnen zu Geld komme . Das Geld habe aus ihm noch lange keinen Ausbeuter gemacht.
Rauno fand, dass blanker Neid die tragende Kraft der Arbeiterb e wegung sei. Davon hatten allerdings sowohl Marx als auch Lenin geschwiegen. Hatten Tuure Lehen oder Otto Ville Kuusinen auch nur ein einziges Wort über den Neid verloren? Wenn ein Genosse mal ein bisschen zu Wohlstand gelangte, dann wurde er sofort aus den Reihen des Proletariats ausgeschlossen und mit Gewalt ins Lager der Gegenseite gedrängt, und von da ging es weiter ins Gefangenenlager oder an den Galgen. Glaubte Eveliina etwa, dass sie die letzte Ko m munistin auf der Welt sei? Das Experiment des Sozialismus in der Sowjetunion und anderswo zeigte, dass die Idee zu edel war, als dass sie von neidischen Tölpeln verwirklicht werden könne.
Eveliina: Die Fehler der Sowjetunion kann man nicht allen Arbe i tern anlasten. Dort herrschte eine Diktatur.
Rauno: Die Diktatur des Proletariats.
Rauno Rämekorpi wetterte, dass die sowjetische Schreckensher r schaft siebzig Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, die deutsche vielleicht dreißig Millionen.
Eveliina empfahl ihm, die Sache mal aus einem anderen Blic k winkel zu betrachten. Angenommen, Deutschland wäre sozialistisch und Russland nationalsozialistisch gewesen, dann wäre diese Tode s statistik annähernd gleich ausgefallen. In
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