Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
Pariserstraße.
»Genau, das brauch ich jetzt«, rief er, klatschte in die Hände und verließ eilig sein Dienstzimmer.
Kaum zwei Minuten später saß er in einem Eiscafé und bestellte einen Amarena-Becher sowie einen Cappuccino. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die dunklen Wildkirschen monatelang in ein Sirup aus Mandelöl, Vanille und Zucker eingelegt würden. Und zwar so lange, bis sie das erwünschte, typische Mandelaroma angenommen hatten, das in Verbindung mit Schlagsahne jede Eiskugel zu einem unvergleichlichen Genusserlebnis veredelte.
Mit dem langstieligen Löffel schabte er etwas Joghurteis ab, nahm auf dem Weg zu der ersten schwarzen Kirsche ein wenig Sahne auf, führte die kleine Metallschaufel in den Mund und schloss die Augen.
Plötzlich vibrierte es in seiner Hosentasche. Genervt legte er den Löffel ab und zog sein Handy heraus. ›Leichenschnibbler ruft an‹ blinkte es auf dem Display.
»Wo bist du?«, fragte Dr. Schönthaler und ergänzte, nachdem ihm Tannenberg seinen derzeitigen Aufenthaltsort mitgeteilt hatte. »So schön möchte ich’s auch mal haben.«
»Man wird ja mal eine Pause einlegen dürfen. Schließlich ist Sonntag. Und das hat bereits der liebe Gott …«
»Bitte verschon mich mit deinen primitiv-theologischen Sprüchen«, würgte ihn der Pathologe ab. »Damit versuchst du doch nur, deine Schandtaten zu rechtfertigen. Der HERR vergibt alles und jedem – so auch dir, nicht wahr?«
Nur ein Knurren zur Antwort.
»Ich bin in fünf Minuten bei dir und dann steht ein Espresso und ein Spaghettieis vor mir auf dem Tisch – und zwar ohne Sahne!«, befahl Dr. Schönthaler in Kasernenhofton. »Im Gegensatz zu dir hab ich nämlich eine Adonisfigur zu hegen und zu pflegen.«
Danach war das Gespräch beendet. Folgsam gab Tannenberg die Bestellungen auf und wandte sich wieder seinem Amarenabecher zu. Seine Gedanken beschäftigten sich noch eine Weile mit dem barschen Anrufer, dann schweiften sie zu Hanne.
Toll, wie meine Familie sie mit offenen Armen aufgenommen hat, dachte er gerade, als hinter der Glasscheibe des Eiscafés der knatternde, laubfroschgrüne 2 CV des Rechtsmediziners auftauchte. Dr. Schönthaler hatte das Rolldach geöffnet und winkte ihm zu. Er parkte die Ente im absoluten Halteverbot und betrat strahlend die Eisdiele.
»Brav, mein alter Junge«, lobte er vom Eingang aus, als er das Spaghettieis und den dampfenden Espresso entdeckte. »Hätte gar nicht gedacht, dass dein seniles Alzheimer-Hirn so lange etwas behalten kann.« Neugierig drehten einige der Gäste den Kopf zu ihm hin, woraufhin Tannenberg am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Auch an diesem milden Herbsttag war Dr. Schönthaler wieder ausgesprochen edel gekleidet. Er trug einen nougatfarbenen dreiteiligen Anzug, ein gestreiftes Hemd, eine hellblaue Fliege und glänzende schwarze Lederschuhe. Mithin ein Outfit, das in diametralem Gegensatz zu seinem fahrbaren Untersatz stand, einem fast 30 Jahre alten 2 CV 6, dessen Lackierung bereits ziemlich matt und vergilbt war.
Dieses ungewöhnliche Fortbewegungsmittel hatte er sich während seines Studiums als Neuwagen zugelegt und es fortan wie seinen Augapfel gehütet. Bis zum heutigen Tage war niemand außer ihm selbst dieses Auto gefahren, noch nicht einmal sein bester Freund, der bei den seltenen gemeinsamen Ausfahrten auf dem Rücksitz Platz nehmen musste. Der Grund für den ungewöhnlichen Beifahrerplatz bestand darin, dass der rechte Vordersitz seit Urzeiten dauerhaft belegt war, und zwar von einer lebensgroßen Loriotfigur, die er mit einem alten Anzug und Hut seines inzwischen verstorbenen Vaters ausstaffiert hatte.
Rainer Schönthaler war bereits in seiner Schulzeit ein eingeschworener Loriotfan. Deshalb hatte es Tannenberg auch nicht sonderlich verwundert, dass sein Freund sämtliche Türen, die Heckklappe und sogar die gewölbte Motorhaube des nagelneuen Autos mit Loriotmotiven bemalte. Quasi als Sahnehäubchen stülpte er knallgelb und rot gespritzte Halbschuhe über die Höcker der Stoßstange. Seitdem sorgte dieses Auto, egal wo es auftauchte, für große Heiterkeit und war in der Barbarossastadt mindestens genauso bekannt wie der berühmte bunte Hund.
»Na, wie ich sehe, ist es dir gerade mal wieder peinlich, dass du mich kennst«, tönte der Gerichtsmediziner und setzte sich seinem Freund direkt gegenüber. Er lehnte sich so weit nach vorne, dass er Tannenbergs süßlichen Atem riechen konnte und flüsterte: »Dem Mandelgeruch nach
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