Zehntausend Augen
Tag mit hartem Kampftraining. Eigentlich war schon alles vorbei gewesen, der Trainer war bereits gegangen. Stefan stand inmitten einer Traube von Kollegen und gab etwas zum Besten. Einen Witz, hatte Ellen noch gedacht, denn alle lachten. Als sie auf ihrem Weg zu den Umkleidekabinen der Gruppe näher kam, verstand sie erste Gesprächsfetzen.
»… und dann von hinten. Ich musste ihr alles …«
»Worum geht's? Ich möchte gerne mitlachen.«
Da sah Stefan sie von oben herab an. Seine Haut glänzte vom Schweiß, und aus jeder Pore quoll Testosteron. »Ich erzähle meinen Freunden gerade, welche Qualitäten du im Bett hast.«
»Das solltest du besser für dich behalten. Wie ich im Bett bin, geht niemanden etwas an.«
Stefan grinste. »Ich erzähle, was ich will und wem ich es will. Das lasse ich mir von niemandem verbieten.«
»Deine Meinung ist mir egal. Es geht um mich, und deshalb verbiete ich es dir.«
»Wie willst du mich daran hindern? Dich beim Trainer ausheulen?«
Die anderen lachten. Stefan sah sich triumphierend um.
Jetzt reichte es Ellen endgültig. Sie dachte an keine möglichen Konsequenzen. »Ich heule nicht. Ich kämpfe!«
Stefan war verblüfft. Dann lachte er wieder. »Ich kämpfe nicht gegen eine – Frau.«
Der Ton war so abfällig. Stefan wollte sie vor allen demütigen, das war klar.
»Dann kämpfe ich eben allein.«
Dabei trat Ellen Stefan mit voller Wucht in die Seite.
Stefan sog die Luft ein. Ein kurzer Blick zu den Umstehenden machte ihm klar, dass er jetzt nicht kneifen durfte. Ellen stand in Kampfhaltung vor ihm.
»Brauchst du noch eine zweite Aufforderung?« Sie trat einen halben Schritt vor.
Zögerlich nahm auch Stefan Kampfhaltung ein. Einen weiteren Tritt von Ellen parierte er.
Für Stefan hatte der Sieger damals von vornherein festgestanden. Er war wesentlich größer und stärker als Ellen, also konnte er nur gewinnen. Entsprechend selbstsicher ging er die Sache an. Er musste erst einige Schläge und Tritte einstecken, bis er realisierte, dass seine Rechnung nicht so einfach aufging. Er traf immer nur halb, während Ellen einen gezielten Treffer nach dem anderen landete, zwar nicht so fest, dass er es nicht wegstecken konnte, aber in Summe doch so schmerzhaft, dass es ihn schwächte und seine eigenen Schläge noch ungezielter machte. Die Kollegen standen im Kreis um die Kämpfer herum und johlten. Jetzt schlug Stefan hemmungslos zu, ohne noch auf irgendwelche Regeln zu achten.
Ellen musste höllisch aufpassen. Wenn Stefan sie auch nur einmal mit voller Wucht traf, war der Kampf zu Ende. Das durfte nicht passieren. Wenn sie jetzt verlor, war sie für immer unten durch beim LKA. Dann war sie »die Kleine«, und niemand würde sie je wieder ernst nehmen. Ellen kämpfte um ihre Karriere, um Rache für die Demütigung.
Sie vergaß dabei alles um sich herum. Sie antizipierte die Schläge und Tritte von Stefan und wich mit einer Wendigkeit aus, wie man sie nur umsetzen konnte, wenn man klein war. Ein kleines Boot wendet eben schneller als ein großer Tanker. Ellen setzte alles auf ihre Schnelligkeit und auf Präzision. Das waren ihre Stärken, ihre einzige Chance. Natürlich traf auch Stefan. Wahrscheinlich sah sie aus, als wäre sie gerade ungebremst gegen eine Beton- wand gelaufen.
Irgendwann packten mehrere starke Arme Ellen und bremsten sie. Die Angriffe von Stefan blieben aus. Auch er wurde von zwei Kollegen gehalten.
»Es reicht jetzt«, brüllte einer.
Stefans Gesicht war mit Blut bespritzt. Ellen hatte ihm im Verlauf des Kampfes die Nase gebrochen. Ein Nasenflügel war eingerissen.
Gewonnen hatte damals niemand. Ihre Wunden waren verheilt bis auf eine kleine Narbe an Stefans Nase. Nicht verheilt war Stefans verletzter Stolz. Mit dem Kampf hatte ihr Streit nicht aufgehört, eigentlich hatte er damit erst richtig angefangen. Der bittere Konkurrenzkampf zwischen Ellen und Stefan war an diesem Tag eröffnet worden.
Stefan konnte die Andeutung eines zufriedenen Grinsens nicht unterdrücken, als Ellen ins Büro kam und überrascht über seine Anwesenheit war. Er versteckte es immerhin so geschickt, dass weder Brahe noch Kronen etwas davon mitbekamen.
Arschloch! Ellen rieb kurz einen Finger an ihrer Nase – genau an der Stelle, wo bei Stefan die kleine Narbe war.
Stefan hörte auf zu grinsen.
Ellen kannte Stefans größtes Problem. Sie war zur Leiterin des LKA 632 berufen worden und nicht er. In Stefans Augen eine krasse Fehlentscheidung, dass Direktor Brahe sie
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