Zehntausend Augen
der Evakuierungszone lagen. Auf fast jedem sah man Kameraleute ihre Geräte aufbauen oder Fotografen mit riesigen Teleobjektiven.
Holger stieß Tobias in die Seite. »Setz deine Mütze richtig auf. Wir kommen ins Fernsehen.«
Von der gegenüberliegenden Straßenseite kam eine kleine blonde Frau auf sie zu. Tobias erkannte sie sofort.
»Ellen Faber«, flüsterte Tobias zu Holger, »die Leiterin des LKA 632.«
»Die ist ja klein.«
»Aber ein harter Brocken.«
»Sieht ganz gut aus. Ob ich die mal auf einen Cocktail einladen kann?«
»Lass bloß die Finger von der. Ich habe sie einmal beim Kampftraining beobachtet. Die bricht dir noch mit ihrem kleinen Finger alle Knochen.«
Jetzt stand die Faber vor ihnen. »Haben Sie beide den Bus gestoppt und die Fahrgäste evakuiert?«
Tobias sagte: »Ja.«
Holger nickte.
»Sehr mutig von Ihnen. Meine Anerkennung. Ich werde das Ihrem Vorgesetzten gegenüber vermerken.«
»Das war doch selbstverständlich«, sagte Tobias so überzeugt, wie er konnte.
»Dafür sind wir ja da«, sagte Holger.
7
Im Büro von Direktor Brahe wartete eine Überraschung auf Ellen. An dem kleinen, runden Besprechungstisch saß nicht nur Brahe, sondern auch Kronen, der Polizeipräsident, und Stefan Daudert, ihr Stellvertreter.
Will man mir den Fall entziehen?
Mehr Zeit zum Denken ließ man ihr nicht. Brahe begrüßte sie und stellte dann den Polizeipräsidenten vor. Ellen kannte ihn natürlich, schließlich hatte er sie in die Leitung des LKA 632 eingesetzt, auf Empfehlung von Direktor Brahe hin. Kronen hatte sich sogar einige Male nach ihrem Befinden erkundigt, was aber sehr schnell nachgelassen hatte, als er merkte, dass sie auch als Frau die Position gut ausfüllte.
Kronen trug wie immer einen perfekt sitzenden Maßanzug. Für einen Fünfzigjährigen war sein Haar viel zu dunkel. Seine Haut wirkte, als ob man ihn für einen Fototermin fertig gemacht hätte. Vielleicht hat er ja heute noch einen.
Kronen mochte Fotos und öffentliche Auftritte. Er war mindestens einmal pro Woche in der Presse. Am liebsten verkündete er Erfolge der Polizeiarbeit, die er vortrefflich als seine eigenen darstellen konnte. Manchmal sah man ihn auch mit Prominenten aus der Politik oder besser noch vom Film. Zur Not tat es auch seine eigene Frau, der man leider ansah, dass Kronen sie vorwiegend zu Repräsentationszwecken geheiratet hatte. Sie schien einmal vor dem Spiegel ihr Lächeln eingeübt zu haben und trug es seitdem ununterbrochen vor sich her.
Kronen nickte Ellen nur kurz zu.
»Zu Herrn Daudert brauche ich Ihnen wohl nichts zu sagen«, sagte Brahe mit einer Handbewegung in Richtung von Ellens Stellvertreter.
Nein, das brauchte er wahrlich nicht. Ellen kannte Daudert viel zu gut, nicht nur als Kollegen. Sie waren während ihrer gemeinsamen Ausbildung ein Paar gewesen, wenn auch nur für zwei Monate. Selbst das war noch zu lang gewesen.
Wo Stefan Daudert war, musste er den Ton angeben. So war es in seinem Leben schon immer gewesen, und er konnte sich wohl auch nichts anderes vorstellen.
Anfangs hatte Ellen bewundernd zu ihm aufgesehen. Stefan war fast dreißig Zentimeter größer als sie und absolut durchtrainiert. Auch jetzt waren seine Muskeln deutlich unter dem eng geschnittenen Hemd zu sehen. Dazu war er durchaus intelligent, was aber nur dann zutage trat, wenn er etwas erreichen wollte. Hatte er es bekommen, schien er seine Intelligenz abzulegen wie einen schmutzigen Mantel. Leider hatte Ellen diese Eigenart erst bemerkt, nachdem er sie ins Bett gekriegt hatte. Dann hatte es nur wenige Wochen gedauert, bis klar war, wie er wirklich über Frauen dachte. Sie waren dazu da, um mit ihnen Spaß zu haben, aber als ernst zu nehmende Partnerinnen? Niemals! Dass Ellen eine Prüfung um eine Viertelnote besser bestand, hatte seinen Stolz mächtig angeknackst. Danach war er mit jedem Tag unerträglicher geworden.
Im Nachhinein wunderte sich Ellen, warum sie es überhaupt so lange mit ihm ausgehalten hatte. Vielleicht, weil das Alleinsein manchmal auch schmerzhaft war. Vielleicht, weil sie die Hoffnung gehabt hatte, das Verhältnis zwischen ihnen würde sich wieder bessern. Dass er gelegentlich für sie beide gekocht hatte, vorzugsweise mexikanisch, war auch angenehm gewesen.
Das Verhältnis besserte sich nicht. Stefan gab Ellen bei jeder Gelegenheit deutlich zu verstehen, dass er ganz offensichtlich der Bessere war. Alles lief auf eine Entscheidung hinaus, endgültig Schluss zu machen. Sie kam an einem
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