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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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scheinbar gelangweilt an einem Baum lehnte, sprang mit einem einzigen Satz auf die Straße, um in eine noch bessere Fotoposition zu kommen.
    Als ob mit der Aktion des einen Fotografen ein Schalter umgelegt worden wäre, standen plötzlich alle Reporter unter Strom. Jeder spurtete los, um in die beste Ausgangsposition zu kommen. Ohne Rücksicht auf den Verkehr strömten die Journalisten auf die Straße. Das wütende Hupen der Autofahrer interessierte niemanden. Gleich würde die Meute den ganzen Verkehr blockieren.
    »Geben Sie Gas!«, fuhr Ellen den Fahrer an. »Schnell!«
    Der Kollege trat das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz durch die letzte verbliebene Lücke. Das war knapp gewesen. Den Haupteingang konnte Ellen vergessen.
    »Zu den Parkdecks«, befahl Ellen.
    Um zu den Parkdecks auf dem Polizeigebäude zu kommen, mussten sie einmal um den Block fahren. Ellen sah zur Heckscheibe hinaus. Hinter ihnen wurden die Fotografen auf der Straße schnell kleiner. Der Wagen musste einige Mal scharf abbiegen, um in die Straße auf der gegenüberliegenden Seite des großen Gebäudekomplexes zu kommen. Da entdeckte Ellen das Motorrad, das hinter ihnen herfuhr. Wegen des Kameramannes auf dem Rücksitz kam es nicht so schnell um die engen Kurven.
    »Nun machen Sie schon!«, drängte Ellen ihren Fahrer.
    Auf dem geraden Stück holte das Motorrad deutlich auf, aber die Schranke zu den Parketagen schloss sich hinter ihnen, bevor die Verfolger heran waren. Fürs Erste hatte Ellen es geschafft. Sie konnte zu ihrem Arbeitsplatz gelangen, ohne den Reportern in die Arme zu laufen.
    Betont langsam ging sie den Weg über die Fußgängerbrücke, die eine kleine Straße überquerte und die Parkdecks mit dem Hauptgebäude verband. Ihr Puls verlangsamte sich wieder auf das normale Maß. In der Mitte der Brücke hielt sie an und sah auf die Straße hinunter. Wie sehr hatte sich in den letzten zwei Tagen ihr Leben verändert, ja geradezu umgekehrt. Sie war zur Polizei gegangen, um Verbrecher zu jagen – und jetzt war sie plötzlich die Gejagte. Hineingeworfen in ein Spiel um Menschenleben, an die Öffentlichkeit gezerrt und gejagt von der Presse.
    Ellens erster Weg führte ins Pressebüro. Jens war schon da. Das war ungewöhnlich, aber Ellen nur recht. Er sortierte einen Berg Zeitungen auf zwei Stapel und hatte Ellen, die durch die offene Tür trat, noch nicht bemerkt.
    »Guten Morgen, Jens.«
    Er sah überrascht auf.
    »Ich möchte mich für meinen Auftritt gestern entschuldigen. Tut mir leid, dass ich so in deine Pressekonferenz geplatzt bin.«
    Jens lächelte. »Ist schon in Ordnung, Ellen. Wir sind alle etwas angespannt zurzeit. Was kann ich für dich tun?«
    »Ich will mir einen Überblick über die Pressemeldungen verschaffen. Ich befürchte, dass unser Fall zu viel Aufmerksamkeit erfährt. Das macht die Ermittlungen schwierig.«
    »Sieh dir das hier an!« Jens breitete seine Arme über den Tisch aus. Die Bewegung wirkte irgendwie hilflos. »›Zu viel Aufmerksamkeit‹ ist untertrieben. Es gibt keine Zeitung, bei der wir nicht auf der Titelseite sind. So was habe ich noch nie erlebt.«
    Ellens Blick fiel auf die aktuelle Ausgabe der Bild-Zeitung. »Strippende Polizistin rettet Bus« prangte dort in riesigen schwarzen Lettern. Darunter war ein Bild von dem Bus und daneben, viel größer: ein Bild von Ellen, wie sie in ihrem BH in der Leitzentrale stand. Wie viel Millionen Leser lasen das? Hastig ging sie die Titelseiten der anderen Zeitungen durch. Überall das gleiche. Nur dass die meisten den Bus mehr hervorhoben, trotzdem war immer auch ein Bild von ihr dabei.
    »Jetzt bist du berühmt«, sagte Jens zu allem Überfluss auch noch.
    »Das interessiert mich nicht im Geringsten«, entgegnete Ellen schroffer als beabsichtigt.
    Jens schwieg. Dann deutete er auf einen der beiden Stapel. »Den habe ich für dich gemacht, aber ich bin noch nicht fertig.«
    »Der reicht mir vollkommen.« Sie packte den Stapel und ging zur Tür hinaus.
    In ihrem Büro knallte Ellen die Zeitungen auf ihren Schreibtisch. Am liebsten hätte sie den ganzen Stapel sofort im Reißwolf zerfetzt, aber das ging nicht. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich mit den Artikeln beschäftigen. Ihre Kollegen, Direktor Brahe, der Polizeipräsident – alle lasen die Zeitungen. Ellen würde auf die Artikel angesprochen werden und reagieren müssen. Also musste sie wissen, was drinstand.
    Die Auswertung zeigte eines unmissverständlich: Das ganze Land schaute auf

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