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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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Briefkastens feststeckte. Man sah nur den Kopf einer Frau auf der Titelseite, aber Ellen wusste auch so, wie es darunter weiterging.
    »Na, hat sie ihren Busen eingeklemmt?«, fragte sie.
    Mit einem heftigen Ruck befreite Hassan die Zeitschrift aus dem Schlitz, wobei er der Frau einen Busen abriss.
    »Oh, jetzt ist er auch noch amputiert.«
    Hassan stieß einen wütenden Fluch aus. Dann drehte er sich zu Ellen um und versuchte ein Lächeln. Die undefinierbare Duftwolke, die er verströmte, kam noch vor seinem Lächeln bei Ellen an.
    »Oh, Ellen, ich habe dich heute im Internet gesehen. Ich wusste gar nicht, dass du bei der Polizei bist.«
    »Für Sie bin ich immer noch Frau Faber«, erwiderte Ellen.
    Hassan schien es nicht zu hören.
    »Du siehst echt geil aus ohne Bluse. Das glaubt man gar nicht, wenn man dich sonst so sieht. Nur der BH ist ziemlich alt.« Hassan zeigte auf Ellens Brust.
    »Meine Unterwäsche geht Sie gar nichts an.«
    Ellen beeilte sich, die Treppe hochzukommen. Hassan folgte ihr. Da er mit seinen ein Meter neunzig deutlich größer war als Ellen, konnte er bequem zwei Stufen auf einmal nehmen. Er keuchte zwar heftig, blieb ihr aber auf den Fersen.
    »Wir könnten eine Wasserpfeife zusammen rauchen«, schlug er vor. »Ich habe auch ein neues Computerspiel. Das ist irre geil.«
    Die Anmachversuche von Hassan konnte Ellen noch nie leiden, und das Stichwort »Computerspiel« weckte üble Erinnerungen an letzte Nacht. Vielleicht konnte sie dieses Problem für heute lösen. Vor Hassans Tür hielt sie an.
    »Was für ein Computerspiel?«
    Hassan atmete schwer. Sein Kopf war rot wie eine Tomate. »Man kann die Figuren und die Waffen selbst programmieren. Das ist scharf. Und danach könnten wir ein bisschen Spaß miteinander haben.« Sein Blick glitt an Ellens Fahrradkluft entlang, die hauteng an ihrem Körper saß.
    »Klingt interessant«, meinte Ellen, »aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir nichts tun.« Sie streckte ihm ihre Hand hin.
    Hassan zögerte. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Sein Gesicht bekam einen gierigen Ausdruck, und er griff nach Ellens Hand. Die zuckte ein winziges Stück zurück, sodass sie nicht Hassans Handfläche, sondern seine Finger zu fassen bekam. Dann drückte sie kräftig zu. Sehr kräftig. Hassan jaulte auf wie ein getretener Hund.
    »Aber ich verspreche nicht, dass ich Ihnen nichts tue. Verstanden?«, sagte sie.
    »Jaaa. Au, das tut weh.«
    Ellen drückte stärker zu. »Die letzte Nacht war die Hölle für mich. Können Sie sich das vorstellen?«
    »Ja.« Hassan würde jetzt zu allem Ja sagen.
    »Wenn ich heute Nacht nur einen einzigen Schuss von einem Ballerspiel höre, schlage ich zuerst Ihre Wohnungstür ein und dann Ihren Schädel. Klar?« Sie tippte mit dem Zeigefinger der freien Hand gegen seine Stirn, während sie mit der anderen nochmals herzhaft zudrückte.
    »Ja!«
    Im Erdgeschoss ging eine Tür auf. Frohwein, der alte Hausmeister, kam herausgehinkt.
    »Was ist das für ein Krach im Haus?«, rief er das Treppenhaus hinauf.
    Ellen würde ihm am liebsten sagen, dass er sein Hörgerät auch nachts anlassen sollte, wenn er wissen wollte, was Krach ist. »Nichts weiter«, rief sie hinunter. »Herr Nabil und ich, wir haben uns nur die Hände geschüttelt. Stimmt's, Herr Nabil?« Erneut drückte sie zu und ließ dabei Hassans Knochen gegeneinanderreiben, sodass dieser erneut »Jaaaa!« brüllte.
    Der alte Frohwein grummelte etwas Unverständliches über die Jugend von heute und zog sich in seine Wohnung zurück. Ellen ließ Hassan mit seiner Hand allein und ging die letzten Stufen zu ihrer Wohnung hinauf.
    Erleichtert, den Tag hinter sich zu haben, zog Ellen die Wohnungstür hinter sich zu. Sie schleuderte ihre Schuhe in eine Ecke, schaltete den Anrufbeantworter ein und holte sich eine Flasche Apfelschorle aus dem Kühlschrank.
    Piep . »Hallo, meine Kleine. Hier ist Mutti. Ich habe dich in der Zeitung gesehen. Ich mache mir Sorgen um dich. Ruf mich an, wenn du zu Hause bist.«
    Ellen seufzte. Warum musste ihre Mutter sie immer »meine Kleine« nennen? Es war ärgerlich genug, dass sie so klein war. Da war es vollkommen überflüssig, ständig daran erinnert zu werden.
    Piep . »Hallo, Schwesterherz. Annika ist dran. Mensch, du warst im Fernsehen. Weißt du das? Melde dich.«
    Ja, das wusste Ellen. Viel zu gut. Alle Welt schien sie gesehen zu haben.
    Könnt ihr mich nicht mal in Ruhe lassen?
    Aber der Anrufbeantworter machte ungerührt weiter.
    Piep .

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