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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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»Frau Faber, bitte rufen Sie zurück, damit wir einen Interviewtermin vereinbaren können …«
    »Eberle!« Sie brüllte den Namen, ehe der Anrufbeantworter ihn genannt hatte. Die Stimme kannte sie inzwischen allzu gut. Dabei hieb sie ihre Handkante mit voller Wucht gegen den Türrahmen. Den Knall hörte Frohwein bestimmt auch ohne Hörgerät.
    »Au! Verflucht!« Der Schmerz zuckte hoch bis in Ellens Schulter. Im Training schlug sie entweder auf Leder oder auf Bretter, die nachgaben. Der Türrahmen war hart und gab nicht nach. Das Blut pochte wie verrückt in ihrer Hand, aber gebrochen war nichts. Dafür war sie zu austrainiert. Jetzt brauchte sie etwas Richtiges zum Beruhigen.
    Im Schrank stand noch eine Flasche Cognac, ein Geschenk ihrer Schwester zum Geburtstag. Ellen goss sich einen kräftigen Schluck ein und spülte ihn hinunter. Der Alkohol brannte in der Kehle, aber dafür spürte sie ihren Arm nicht mehr. Sie schenkte noch einmal voll und ließ sich mit einem Seufzer in ihren großen Korbsessel fallen. Er sah aus wie ein riesiges, gepolstertes Vogelnest, und es hätten bequem auch zwei hineingepasst.
    Den nächsten Schluck trank sie bedächtiger. Ihr Adrenalinspiegel reduzierte sich auf ein erträgliches Niveau. Der rotgoldene Cognac strahlte etwas Beruhigendes aus, als er sachte im Glas hin und her schwappte.
    Als sie nach einer kurzen Dusche ihren BH aufhob, fiel ihr Hassans Bemerkung ein. Was hatte der gesagt? Alter BH? Das Teil war tatsächlich in die Jahre gekommen, und das sah man ihm deutlich an.
    Und darin hat mich alle Welt gesehen! Wieso ist mir nie aufgefallen, wie unansehnlich dieses Ding ist? Weil es bedeutungslos war. Weil mich eh niemand darin gesehen hat .
    Kurz entschlossen steckte Ellen den BH in den Müll. Eine Inventur ihrer Unterwäsche-Schublade war wenig ermutigend. Der überwiegende Teil ihrer BHs besaß das gleiche Baujahr wie der eben entsorgte. Sie hatte schon lange keine Veranlassung zum Kauf schöner Wäsche gehabt. Und irgendwie war dieses Thema im Lauf der Zeit untergegangen.
    Missmutig stopfte Ellen alle alten Sachen in einen großen Beutel. Am liebsten hätte sie ihr Leben mit hineingestopft.
    Jetzt war die Schublade fast leer. Ellen füllte den Cognac nach und setzte sich vor ihren Laptop.

9
     
    Die Nacht verlief ruhig. Offensichtlich war Hassan von der Begegnung mit Ellen nachhaltig beeindruckt. Nur der Cognac zeigte Nachwirkungen. Selbst nach der morgendlichen Dusche wollte ihr Brummschädel nicht weichen. Sich mit dem Mountainbike freizustrampeln, kam heute nicht in Frage. Ellen hatte das dumpfe Gefühl, dass in der Umgebung ihres Hauses Presseleute auf der Lauer lagen. Diesen Stress musste sie sich jetzt nicht antun.
    Die Morgennachrichten verhießen nichts Gutes. Auf jedem Sender war der Erpresser Hauptthema. Andere Nachrichten schien es in der ganzen Stadt nicht zu geben. Der ganzen Stadt? Dem ganzen Land. Überall wurde hemmungslos spekuliert, was als Nächstes geschehen würde. Und jeder Sender versprach seinen Zuhörern, möglichst nahe vom Geschehen zu berichten.
    Ellen bestellte einen Streifenwagen in die Parallelstraße von ihrer Wohnung. Sie schlug den Weg über den Hinterhof ihres Hauses ein. Hier hatte schon lange niemand mehr für Sauberkeit gesorgt. Misstrauisch spähte sie in jeden Winkel, wobei sie immer mit einer Kamera rechnete, die sie aufs Korn nahm. Fast wäre sie in den Hundehaufen getreten, der neben den Mülltonnen dampfte. Hier war jemand noch früher aufgestanden als sie. Nachdem sie einen Haufen Gerümpel umgangen hatte, kam sie an ein Tor, das in den Hinterhof des nächsten Hauses führte. Hier sah es genauso abstoßend aus wie in dem Hof ihres Hauses. Nur der Hundehaufen fehlte. Ellen war erleichtert, als sie endlich im Streifenwagen saß. Hier war sie vorerst sicher.
    Vor dem Haupteingang des LKA standen für diese Zeit ungewöhnlich viele Leute herum. Jeder Zweite war mit mindestens einer Kamera bewaffnet. Zwei Übertragungswagen blockierten gut sichtbar mehrere Parkbuchten auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. RTL stand auf dem einen, ZDF auf dem anderen. Neben dem von RTL entdeckte Ellen zwei Motorräder, auf denen ebenfalls das Logo von RTL prangte. Hier war man anscheinend auf alles vorbereitet. Die Presse blies zur Jagd. Und eins der Opfer war sie selbst, wie ihr Eberle gestern sehr deutlich gezeigt hatte. Ellen machte sich auf dem Rücksitz klein, um nicht entdeckt zu werden. Zu spät. Einer der Fotografen, der nur

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