Zehntausend Fallen (German Edition)
weit beim Aufsagen ihres Satzes.
»Ins Archiv wollen Sie?«, unterbrach die Dame. »Da wird sich Onkel Alfred aber freuen.«
»Onkel Alfred?« Ellen war sich plötzlich nicht mehr sicher, die Frau richtig verstanden zu haben.
»So nennen ihn alle hier«, erklärte die Dame, »weil er schon länger da ist als alle anderen im Haus und unser Onkel sein könnte. Aber seit wir durch Computer direkt aufs Archiv zugreifen können, geht kaum noch jemand zu ihm runter.«
Die Frau deutete zur Tür, die ins Treppenhaus führte. »Am besten nehmen Sie die Treppe. Dann ist es unten die erste Tür links.«
Gespannt auf »Onkel« Alfred ging Ellen die wenigen Stufen hinunter. Das lief einfacher als gedacht.
Das Archiv war nur mäßig beleuchtet. Bis unter die Decke hingen Zeitungen, sauber aufgereiht in speziellen Halterungen. Das System war überaus einfach: Die Zeitungen hingen chronologisch in jahrgangsweisen Blöcken. Die alten Jahrgänge ganz oben. Ellen staunte über die unzähligen Regalmeter. Der ganze Raum roch nach Geschichte – und nach Unmengen Altpapier.
Ellen scheute sich, »Onkel Alfred« zu rufen. Einen Nachnamen wusste sie nicht. Also beschränkte sie sich auf ein neutrales: »Ist hier jemand?«
Zuerst hörte Ellen ein Schlurfen. Dann tauchte eine Gestalt aus einem Seitengang auf und kam auf Ellen zu. Kein Zweifel, das war Onkel Alfred. Seine Haut schien sich den abgelegten Zeitungen angeglichen zu haben. Sie wirkte dünn, war bleich und etwas zerknittert.
Eigentlich müsste er schon lange in Rente sein, dachte Ellen. Vielleicht haben ihn nicht nur die Redakteure im Haus, sondern auch die Mitarbeiter der Rentenversicherung vergessen.
»Was wollen Sie?«, fragte Alfred mit einer trockenen Stimme, die ein bisschen an das Rascheln von Papier erinnerte.
»Ich möchte gerne etwas im Archiv nachschlagen«, sprach Ellen das Offensichtliche aus.
»Bitte, gerne. Bedienen Sie sich.« Dabei machte Alfred eine ausholende Handbewegung zu den Regalen hin, mit der er Ellen einzuladen schien, alle seine Schätze zu lesen. So hatte sich Ellen das nicht vorgestellt. Sie hatte weder Lust noch Zeit, kubikmeterweise Papier zu lesen.
»Haben Sie keinen Computer hier?«
Schlagartig wich jegliche Freundlichkeit aus Alfreds Gesicht.
»Computer.« Alfred spuckte das Wort aus wie ein faules Stück Apfel. »Alle wollen nur Computer.«
Alfred schien zu überlegen, ob Ellen es wert war, dass er auch nur noch ein Wort mit ihr wechselte.
»Kommen Sie mit«, sagte er mürrisch und schlurfte los.
Der Computer stand anscheinend am anderen Ende des Archivs. Alfred benötigte fast eine Minute, um die Länge eines Jahrgangs abzulaufen.
»Sie mögen keine Computer?«, versuchte Ellen, die Zeit zu nutzen und die Stimmung etwas zu verbessern.
»Merkt man das?«, fragte Alfred raschelnd zurück. »Computer haben mir meine Arbeit genommen. Früher, als es sie noch nicht gab, da war ich Schriftsetzer. Da hat man die Buchstaben in Metall gegossen. Da hatte eine Nachricht noch richtiges Gewicht.«
Ellen versuchte, es sich vorzustellen, eine in Metall gegossene Nachricht. Es fiel ihr schwer.
»Heute«, fuhr Alfred fort, »da bauscht man alles zu einer Nachricht auf. Jeden Fliegendreck. Und dann wird sie getwittert.«
Ellen war erstaunt, dass Alfred dieses Wort überhaupt kannte. Wahrscheinlich, weil diese Sache sein Feind war.
»Und wie lange halten diese vermeintlichen Nachrichten? Nach ein paar Minuten kommt schon die nächste«, beantwortete Alfred seine eigene Frage. »Was ist das gegen das hier?«
Alfred klopfte im Vorbeigehen gegen ein Bündel Zeitungen. Eine kleine Wolke Staub breitete sich aus und machte das Atmen noch schwerer als vorher.
Immerhin stauben getwitterte Nachrichten nicht, dachte Ellen, aber sie sprach es nicht aus. Zu ihrer Erleichterung kam der Computer in Sicht.
Noch drei Jahrgänge bis dahin, also etwa zwei Minuten.
Alfred zog eine Abdeckplane von Monitor und Tastatur, was eine neue Staubwolke hervorrief.
»Wird nicht oft gebraucht«, kommentierte Alfred.
Das sah Ellen selbst. Sogar mit ihrem spärlichen Wissensstand über Computer war erkennbar, dass sie ein älteres Modell vor sich hatte. Der Monitor war noch ein mächtiger Klotz anstatt flach. Die Farbe war ungleichmäßig angegilbt. Manche Buchstaben auf der Tastatur waren so abgewetzt, dass Ellen sie nicht mehr lesen konnte.
Man hat wohl das älteste Teil eines Redakteurs hier unten entsorgt und dann vergessen. Hoffentlich funktioniert es
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