Zehntausend Fallen (German Edition)
Bombendrohungen und Terroranschläge waren in Berlin um ein Vielfaches sensibler als anderswo. Heute betrat sie die Polizeiwache nur noch als Privatperson, was zwangsläufig eine Kaskade an Erinnerungen lostrat.
Ellen war mit Leib und Seele Polizistin gewesen. Auch die Jahre des härtesten Dienstes hatten nichts daran geändert, dass Gerechtigkeit und Menschen zu helfen das Wichtigste für sie waren. Sie hatte erfolgreich vermieden, innerlich abzustumpfen.
Bis ich zum Äußersten gehen musste – und darüber hinaus. Dieser Gedanke war jeden Morgen da, wenn sie nackt in ihrem Bad vor dem Spiegel stand. Die ganze Welt hat dich so gesehen.
Ellen war erpresst worden. Eigentlich nicht sie selbst, sondern die Berliner Polizei. Ellen hatte die Verantwortung übernommen. Um Menschenleben hatte sie gespielt. Der Preis war die Aufgabe ihres Privatlebens. Stück für Stück hatte sie es geopfert, um Menschen zu retten. Sie hatte geschafft, eine Katastrophe zu verhindern, aber dabei hatte sie viele Leute vor den Kopf gestoßen. Wichtige Leute. Und das tat man nicht, ohne dafür bezahlen zu müssen.
Ellen hätte auch in ihren Wagen steigen, an den See fahren und diesen Nachmittag in der Sonne liegend verbringen können. Es ging nicht. Sie musste einfach diese Treppe hinaufgehen. Sie sah die Tränen von Danuta vor sich, die fragenden Augen der Kinder, die Verzweiflung von Maria – und irgendwo im Hintergrund schreiende Ungerechtigkeit. Nein, sie konnte jetzt nicht in der Sonne liegen.
Ellen erkundigte sich nach dem Zuständigen für die Selbstmorde in der Umgebung. Hauptkommissar Rux. Sie war wenig begeistert, aber das änderte nichts.
Rux legte gerade das Telefon aus der Hand, über das er von Ellens Anliegen erfahren hatte. Er machte sich nicht die Mühe, aufzustehen.
»Frau Faber, wir kennen uns bereits«, stellte er fest. »Was kann ich für Sie tun?«
»Sie sind für die Selbstmorde in der Umgebung zuständig, sagte man mir. Ich wollte mich erkundigen, ob es dazu Ermittlungen gibt.«
»Ob es dazu Ermittlungen gibt?«, wiederholte Rux gedehnt. »Ich frage mich, was Sie das angeht, Frau Faber.«
Rux betonte das »Frau« ganz besonders und beobachtete aufmerksam, wie Ellen darauf reagierte.
Er weiß, wer ich bin , war Ellen blitzschnell klar. Aber so leicht ließ sie sich nicht überrumpeln. Ellen ließ sich nichts anmerken.
»Immerhin habe ich einem Ihrer Bürger das Leben gerettet. Von daher denke ich, dass mich diese Angelegenheit interessieren darf. Als verantwortungsvoller Polizist verstehen Sie das bestimmt.«
»Als informierte Bürgerin wissen Sie genauso bestimmt, dass ich Ihnen keine Ermittlungsergebnisse verraten darf«, konterte Rux.
»Es gibt also Ermittlungen?«
»Nein.« Rux machte eine Pause, um seine provozierende Antwort wirken zu lassen. »Um Ihr Bürgergewissen zu beruhigen: Wir haben keinen Grund zu ermitteln. Die Leichen sind alle von der Gerichtsmedizin untersucht worden. Es wurde in keinem Fall eine Fremdeinwirkung festgestellt. Damit sind die Akten geschlossen. Sie sehen, es ist alles vorschriftsmäßig gelaufen.«
»Und die Gründe für die Selbstmorde? Interessieren Sie die nicht?«
»Das ist eine Angelegenheit der bedauernswerten Familien und nicht der Polizei.«
»Es gibt Hinweise, dass Druck auf die Familien ausgeübt wurde. Sie sind allesamt eingeschüchtert worden.«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Rux tat erstaunt. »Haben Sie Beweise, oder ist es bloß, weil die Leute nicht mit Ihnen reden wollten?«
Rux ist über alles informiert.
Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken, hatte Ellen keine, denn Rux redete weiter.
»Wenn jemand Druck auf die Familien ausüben sollte, können sich die Leute gerne an mich wenden und Anzeige erstatten.«
Einen Teufel werden die Leute tun. »Auf den Feldern dieser Leute wächst nichts. Das ist doch verdächtig.«
Rux zuckte die Schultern. »Jeder Bauer kann selbst entscheiden, was er mit seinem Land macht. Nichts zu tun ist nicht strafbar.«
»Das muss doch einen Grund haben.«
»Ich bin kein Landwirt, aber ich kann sie ja fragen, wenn ich das nächste Mal dort vorbeikomme.«
Ellen wusste, dass es dieses nächste Mal nie geben würde. Rux würde überhaupt nichts in dieser Angelegenheit unternehmen, warum auch immer. Zwingen konnte sie ihn nicht. Wenn sie bei der Polizei etwas erreichen wollte, musste sie weiter oben ansetzen. In dieser Hinsicht hatte sie weder Hemmungen noch Berührungsängste.
»Wer ist der Leiter des Schutzbereichs
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