Zehntausend Fallen (German Edition)
Allerheiligsten angriff. In der Kammer des Schreckens hatte Hajo gezeigt, mit welcher Leichtigkeit er ein ganzes sek -Team ausschalten konnte. Und das war im Prinzip nur ein Spiel gewesen, wenigstens für Hajo. Dieser Mann war zehnmal gefährlicher als alle Verbrecher zusammen, denen Ellen im Lauf ihrer Karriere begegnet war. Wie sie damit auf Dauer umgehen sollte, musste sie noch entscheiden. Später. Jetzt wollte sie erst mal raus hier. Sie wollte unbedingt in die Stadt, sich selbst ein Bild machen. Eigentlich war jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Generalprobe im Unsichtbarmachen.
Wenig später verließ eine sommerlich gekleidete Frau mit Strohhut das Gebäude. Einzig die große, gut gefüllte Reisenthel-Umhängetasche wirkte etwas ungewöhnlich, aber in diesem Haus interessierte sich niemand dafür.
22
»Hallo Annika.«
Die blonde Frau vor Ellen reagierte nicht. Sie hängte eine Bluse zurück an ihren Platz und ging zum nächsten Kleiderständer. Ellen folgte ihr. Annika hatte die gleiche schlanke Figur wie Ellen. Sie war zwei Zentimeter kleiner, was aber wegen ihrer hohen Absätze nicht auffiel. Annika war Ellens jüngere Schwester. Sie machte einen müden Eindruck, was Ellen gar nicht von ihr kannte. Normalerweise wirkte Annika immer sehr lebendig, energiegeladen, optimistisch und häufig genug auch etwas leichtlebig. Ellen war tatsächlich erschrocken, als sie jetzt Annikas Gesicht sehen konnte. Es war blass und zeigte deutliche Spuren von Sorgen.
»Hallo Annika!«, wiederholte Ellen.
Annika sah auf. »Was wollen ...?« Annika stutzte, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ellen, du? Damit hätte ich ja nicht gerechnet, und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus? Man erkennt dich ja nicht wieder.«
Ellen machte ein Zeichen, dass Annika leiser sein sollte. Sie sah sich um, ob jemand auf sie aufmerksam geworden war. Es sah nicht so aus. »Ich muss vorsichtig sein. Können wir uns irgendwo hinsetzen und reden?«
»Sicher. In der vierten Etage ist ein Restaurant.«
Ellen überlegte. Vierte Etage gefiel ihr nicht. Zu gefährlich. »Gegenüber ist ein Chinese. Das wäre mir lieber.«
Annika zögerte, aber als Ellen sagte, sie sei eingeladen, stimmte sie zu. Ellen wählte einen Platz, von dem aus sie eine gute Übersicht hatte und zur Not auch schnell verschwinden konnte.
»Setz dich schon mal. Ich bin gleich wieder da.«
Zuerst musste sie ihren Plan B sichern. Ellen inspizierte die Toiletten. Von dort gab es keinen Weg hinaus. Sie hatten nicht einmal ein winziges Fenster, sondern nur einen Abzug unter der Decke. Auf dem Weg zu den Toiletten konnte man aber in die Küche abbiegen, und von dort gab es mit Sicherheit einen Weg nach draußen, denn sie befanden sich im Erdgeschoss. Das musste genügen.
»Was hast du gemacht?«, fragte Annika.
Ellen seufzte. »Mein Leben ist kompliziert geworden.« Sie erzählte Annika, was sie getan hatte und warum. Ellen kannte Annika gut genug, um zu wissen, dass ihre Schwester eisern schweigen konnte.
»So könnte ich nicht leben«, stellte Annika fest.
»Auch nicht, wenn die Alternative wäre, in den Knast zu wandern? Jede Minute, in der ich frei herumlaufe, ist ein kleines Wunder. Deshalb auch die Verkleidung.«
»Ich habe dich im ersten Moment gar nicht erkannt. Nur deine Stimme ... Man sucht dich sogar im Fernsehen. Was ist eigentlich los? Hast du wirklich getan, was man dir vorwirft?«
Die Bedienung kam. Ellen bestellte Hühnchen mit Erdnuss-Soße. Sie brauchte dringend etwas anderes als Tiefkühlpizza. Annika nahm gebratene Nudeln.
»Das ist eine lange Geschichte ...«
Als Ellen fertig war, brachte die Bedienung gerade für Ellen den Cappuccino zum Nachtisch und für Annika einen Caf fè Latte. Annika hatte schweigend zugehört und nur ab und zu den Kopf geschüttelt.
»Wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich denken, du bist verrückt«, sagte sie jetzt.
»Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich es mir auch nicht glauben.«
Annika beugte sich vor und flüsterte: »Und du lebst wirklich mit diesem Verbrecher zusammen und schläfst auf Sprengstoffkisten?«
Ellen sah sich unauffällig um. Wurde jemand aufmerksam? Nein. »Na ja, der Kerl ist meistens nicht da, und an den Sprengstoff gewöhnt man sich. In der ersten Nacht habe ich kein Auge zugemacht, aber in der zweiten bist du so müde, dann ist dir alles egal.«
»Der Typ spinnt. Du solltest vorsichtig sein.«
»Manches ist wirklich eigenartig, aber wenn man genauer hinsieht,
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