Zehntausend Fallen (German Edition)
macht vieles Sinn.«
»Zum Beispiel?«
»Hat dich schon mal deine Wohnungstür verabschiedet?«
Annika sah Ellen ungläubig an. »Meine quietscht nur, wenn ich sie zumache.«
»Meine sagt: Gute Reise, Gebieterin.«
Annika verschluckte sich an ihrem Caf fè Latte und begann heftig zu husten. Ellen senkte den Kopf, damit niemand in ihr Gesicht sehen konnte. Vielleicht würde man sie trotz der Sonnenbrille erkennen, wenn man gut genug hinsah.
Endlich hatte Annika sich wieder gefangen. »Das ist nicht dein Ernst. Du willst mich auf den Arm nehmen?«
Ellen schüttelte den Kopf. »Es ist ein Code«, sagte sie leise. »Aber wir sollten jetzt besser das Thema wechseln, sonst wird doch noch jemand aufmerksam. Was machen Hanna und Elias? Geht es den Kindern gut?«
Annikas Miene verfinsterte sich schlagartig. Sie sah eine ganze Weile schweigend auf ihre Serviette, bevor sie antwortete. »Elias ist in der Schule verprügelt worden. Er will nicht mehr hin.«
Ellen war entsetzt. Der kleine Elias, der immer so fröhlich lachte. Wenn ein Junge harmlos war, dann er. »Warum denn das?«
»Man wollte sein Frühstücksbrot haben, und er wollte es nicht hergeben.«
»Das gibt's doch nicht. Ist er verletzt?«
»Ein blaues Auge, ein paar Kratzer und jede Menge blaue Flecken.« Annika sah an Ellen vorbei in die Luft. »Aber das Schlimmste ist eben, dass er nicht mehr in die Schule gehen will.«
»Was sagt die Schule dazu?«
»Sie können nichts machen, sagen sie. Es passiert zu oft. Anfangs haben sie noch versucht, die Kinder zur Rechenschaft zu ziehen, aber es ist immer mehr geworden. Es passiert jetzt jeden Tag ein Dutzend Mal. Die Lehrer wissen nicht mehr, was sie tun sollen.« Nach einer langen Pause fügte Annika hinzu: »Und ich weiß es auch nicht mehr. Ich sage ihm immer wieder, wie wichtig die Schule ist, aber ich muss jeden Tag länger reden. Gestern hat es seinen Freund erwischt. Man hat ihm sein Geld abgenommen, das ihm die Eltern fürs Mittagessen mitgegeben haben. Die Mutter hat mich heute früh angerufen und erklärt, dass sie ihren Sohn zu Hause lassen werde. Wenn Elias das heute erfährt, wird er morgen auch nicht mehr gehen.«
Ellen konnte es nicht fassen. Jetzt traf es schon die Kinder. Die konnten am wenigsten dafür. So konnte es nicht weitergehen – aber Annika war noch nicht fertig.
»Was das Ganze noch schlimmer macht: Ich habe meinen Job verloren. Die Geschäftsführung hat unsere Filiale vorläufig dichtgemacht.«
»Du verkaufst doch teure Mode und keine Lebensmittel.«
»Egal. Sie haben Angst, dass sie irgendwann geplündert werden.«
»Seid ihr nicht versichert?«
»Oh, die Versicherungen haben blitzschnell reagiert und die Beiträge in astronomische Höhen geschraubt. Da waren die Entlassungen für unsere Chefs billiger.«
Puh, das waren schlechte Nachrichten. Ellen sah in die Runde. Alles wirkte so normal. Hier und dort saßen Pärchen und schwätzten. Oder täuschte sie sich? War die Stimmung angespannter als sonst? Annika wirkte auf jeden Fall angespannter. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte die sonst vor Energie sprühende Schwester sogar ein bisschen hoffnungslos. Ellen konnte das gut nachvollziehen. Als alleinerziehende Mutter zweier Kinder hatte man keine Rücklagen. Wenn dann der einzige Verdienst ausfiel, schlug das sofort auf alle Lebensbereiche durch.
»Du machst dir Sorgen um deine Wohnung?«
»Schlimmer.« Annika zog einen Umschlag aus ihrer Handtasche. »Lies.«
Ellen überflog den Inhalt. »Der Vermieter kann dir doch nicht einfach so kündigen. Du hast deine Miete immer bezahlt und tust es auch noch.«
»Er muss irgendwie spitzgekriegt haben, dass ich meinen Job verloren habe.«
»Trotzdem kann er dich nicht einfach auf die Straße setzen. Dafür gibt es Gesetze.«
Annika tupfte sich mit ihrer Serviette eine Träne von ihrer Wange. »Daran wird der Bertrich sich ganz genau halten – und bei jedem Wort, das die Kinder sagen, die Polizei wegen Ruhestörung anrufen. Ich habe miterlebt, wie er den Ottlitzkis die Hölle heiß gemacht hat. Wenn der Bertrich Angst um seine Miete hat, vergisst er, dass er ein Mensch ist.«
Ellen kannte die Ottlitzkis flüchtig. Sie waren eine ganz normale Familie, die auf der gleichen Etage wie Annika wohnte. Sie hatten drei Kinder zwischen sieben und elf Jahren. Ihr Pech war, dass Herbert Ottlitzki wegen Krankheit arbeitsunfähig wurde. Das war vor ungefähr einem Dreivierteljahr geschehen. Vier Monate später waren sie ausgezogen, wohin
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