Zehnter Dezember: Stories (German Edition)
Haha. Sie konnten ihn Zeke nennen, ihm eine kleine Maiskolbenpfeife und einen Strohhut kaufen. Sie stellte sich den Welpen vor, wie er gerade auf den Teppich gekackt hatte und zu ihr hochschaute, kann nich anners . Aber was denn. War sie etwa aus einem perfekten Elternhaus gekommen? Alles ließ sich verändern. Sie stellte sich den Welpen als ausgewachsenen Hund vor, der sich ein paar Freunde nach Hause eingeladen hatte und mit britischem Akzent zu ihnen sagte: Meine Herkunftsfamilie zählte, ähm, eher nicht zu den, sagen wir, angesehensten …
Haha, wow, der Geist war doch verblüffend, was er da ständig auswarf an –
Marie trat ans Fenster und war, als sie aus anthropologischem Interesse das Rollo zur Seite schob, schockiert, so schockiert, dass sie das Rollo zurückfallen ließ und den Kopf schüttelte, als müsste sie wach werden, schockiert, einen Jungen zu sehen, der nur wenige Jahre jünger war als Josh und ein Geschirr trug und an einen Baum gekettet war, über irgendein Dingens, durch das – sie zog das Rollo wieder weg, sie konnte doch wohl nicht gesehen haben, was sie zu sehen geglaubt hatte –
Wenn der Junge losrannte, spulte sich die Kette ab. Er rannte jetzt, schaute zu ihr zurück, angeberisch. Als er das Ende der Kette erreichte, ruckte es, und er fiel hin wie erschossen.
Er erhob sich in eine sitzende Haltung, schimpfte über die Kette, schlug sie hin und her und kroch dann auf einen Napf mit Wasser zu, den er zum Mund führte, um einen Schluck zu trinken: einen Schluck Wasser aus einem Hundenapf .
Josh stellte sich neben sie ans Fenster.
Sie ließ ihn hinsehen.
Er sollte erfahren, dass die Welt nicht nur aus Unterricht und Leguanen und Nintendo bestand. Sondern auch aus diesem verdreckten, beschränkten Jungen, der wie ein Tier angebunden war.
Sie erinnerte sich, wie sie aus dem Schrank kam, und überall lag die Wäsche ihrer Mutter verstreut herum, und die orangen Klamotten des Kanalarbeiters hingen alle auf einem Metallbügel. Sie erinnerte sich, wie sie vor der Schule in der bitteren Kälte wartete, der Schnee fiel immer heftiger, und sie zählte immer wieder bis zweihundert und nahm sich jedes Mal vor, sobald sie zweihundert erreichte, würde sie sich zu Fuß auf den langen Nachhauseweg machen –
Gott, was hätte sie darum gegeben, wenn nur ein einziger anständiger Erwachsener ihrer Mutter gegenübergetreten wäre, sie geschüttelt und gesagt hätte: »Sie dumme Kuh, das ist Ihr Kind, Ihr Kind, das Sie –«
»Na, Leute, wie wollt ihr ihn nennen?«, sagte die Frau, als sie aus der Küche trat.
Grausamkeit und Ignoranz strahlten aus ihrem fetten Gesicht mit dem kleinen Lippenstiftflecken.
»Ich fürchte, wir nehmen ihn doch nicht«, sagte Marie kalt.
Was für ein Aufschrei von Abbie! Aber Josh – sie musste ihn nachher unbedingt loben, ihm vielleicht das Zusatzpaket Italienisches Brot kaufen – zischte Abbie irgendetwas zu, und schon waren sie auf dem Weg nach draußen, durch die zugemüllte Küche (vorbei an einer Art Kurbelwelle auf einem Blatt Backpapier, vorbei an einem Stück roter Paprika, das in einer Büchse grüner Farbe schwamm), während die Dame des Hauses hinter ihnen hertrippelte und sagte: »Halt, halt, Sie können ihn umsonst haben, bitte nehmen Sie ihn doch« – sie wollte wirklich, dass sie ihn nahmen.
Nein, sagte Marie, sie könnten ihn zur Zeit wirklich nicht nehmen, sie habe das Gefühl, man solle wirklich nicht etwas besitzen, wenn man nicht bereit sei, sich auch richtig darum zu kümmern.
»Oh«, sagte die Frau und sackte in der Tür in sich zusammen, den zappelnden Welpen über einer Schulter.
Draußen im Lexus fing Abbie leise an zu weinen und sagte: »Aber das war wirklich der perfekte Welpe für mich.«
Und er war auch ein hübscher Welpe, aber Marie wollte zu einer solchen Situation nicht das Geringste beitragen.
Wollte sie einfach nicht.
Der Junge kam an den Zaun. Hätte sie ihm nur mit einem einzigen Blick sagen können, Das Leben wird nicht immer so sein. Dein Leben könnte ganz plötzlich zu etwas Wunderschönem aufblühen. Es kann passieren. Mir ist es passiert.
Aber heimliche Blicke, Blicke, die ganze Welten der Bedeutung übermitteln konnten mit ihrem subtilen Blablabla – alles Blödsinn. Kein Blödsinn allerdings war ein Anruf beim Jugendamt, wo sie Linda Berling kannte, eine Frau, die nicht lange fackelte und diesen armen Jungen so schnell da rausholen würde, dass seiner fetten Mutter der tumbe Kopf nur so schwirrte.
Callie
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