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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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sie.
    «Erzähl weiter», sagte der König.
    «Der junge Mann fuhr mit dem Aufzug in die fünfteEtage und betrat die Räume der Firma, bei der er angestellt war. Ein Kollege, der ihm begegnete, schaute an ihm vorbei, wie man an Leuten vorbeischaut, die einen nicht interessieren, und mit denen man nichts zu tun hat. Nur die Empfangsdame sprach ihn an.
    ‹Wo ist das Paket?›, sagte sie.
    ‹Ich bin es doch›, sagte er. Sie reagierte nicht darauf. Er wiederholte: ‹Ich›, und nannte seinen Namen.
    ‹Das Paket, bitte›, sagte die Empfangsdame. ‹Wir haben hier auch noch anderes zu tun.› Und dann, in einem ganz neuen Ton, erschrocken und ärgerlich: ‹He, wo wollen Sie hin?›
    Er war einfach an ihr vorbeigegangen, ließ sie hinter ihrem kleinen Tresen einfach sitzen, öffnete die Tür mit der Milchglasscheibe, die zu den Büros führte und ging hinein. ‹Sie können doch nicht einfach ... ›, hörte er sie noch sagen.
    An seinem Schreibtisch saß eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Auf dem Bildschirm des Computers konnte er die Statistik erkennen, an der er gerade arbeitete. An der er bis gestern Abend noch gearbeitet hatte.
    ‹Das ist mein Büro›, sagte er.
    Die Frau drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war ihm völlig fremd. Sie trug eine Brille, die ihr ganz weit vorn auf die Nase gerutscht war. Er hätte nicht sagen können, warum ihn gerade das so irritierte.
    ‹Mein Schreibtisch›, sagte er.
    ‹Sie müssen sich in der Tür geirrt haben›, sagte sie. ‹Ich habe schon immer hier gesessen.› Sie lachte. ‹Oder ist das etwa Ihre Familie?›
    Auf dem Schreibtisch, auf seinem Schreibtisch, stand ein gerahmtes Foto. Die Frau war darauf zu sehen. In der Aufnahme hing ihr die Brille an einem dünnen Kettchen vor der Brust. Neben ihr ein Mann, der besitzergreifend den Arm um sie gelegt hatte. Vor den beiden auf dem Boden ein kleines Mädchen mit einer Puppe.
    Einen Augenblick lang hielt es der junge Mann für möglich, dass er wirklich die falsche Tür geöffnet hatte. Aber dann erkannte er den Bilderrahmen. Seine Freundin hatte ihn ihm geschenkt. Mit ihrem Foto darin. ‹Damit du mich bei der Arbeit nicht vergisst›, hatte sie gesagt. Seither stand der Rahmen auf seinem Schreibtisch. Einmal war ein Stapel Akten umgekippt, und der Rahmen war auf den Boden gefallen. In der rechten oberen Ecke fehlte seither ein Teil der Verzierung. In genau der Ecke, wo jetzt ein Fremder selbstgefällig aus dem Bild lächelte.
    Der junge Mann hörte jemanden schreien, ganz ähnlich wie seine Freundin an diesem Morgen bei seinem Anblick geschrien hatte. Erst nach ein paar Augenblicken merkte er, dass es seine eigene Stimme war. Er packte die Frau, die ihm seinen Platz gestohlen hatte, an den Schultern, er schüttelte sie, und ...»
    «Halt mal kurz an», sagte der König. «Ich glaube, ich habe mir meinen Pickel aufgekratzt.» Er tupfte mit einem Zipfel des Betttuchs an seinem Bauch herum und kippte dann einen Schuss Whisky über die wunde Stelle. «Das desinfiziert», sagte er.
    «Musst du das im Bett machen?», fragte die Prinzessin. «Auf dem Nachttisch wär’s mir zu unbequem», sagte der König. «Du kannst schon wieder weitererzählen.»
    «Du bist der Kunde», sagte die Prinzessin. «Vielleicht hätte der junge Mann der Frau die Finger um den Hals gelegt und so lang zugedrückt, bis sie nicht mehr behaupten konnte, das sei ihr Büro und ihr Schreibtisch, ihr Bilderrahmen und ihr Foto. Aber hinter ihm waren drei oder vier Männer ins Zimmer gekommen, die hielten ihn fest und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Sie hatten Angst und taten es deshalb schmerzhafter als nötig.
    Die Frau zeigte anklagend auf ihn und sagte: ‹Das ist ein Verrückter. Wie ist er hier hereingekommen?›
    Sie führten ihn ins Büro seines Chefs. Weil keiner ihn loslassen wollte, waren sich die Männer dabei gegenseitig im Weg. Einer von ihnen war ein Kollege, mit dem er jeden Mittag in der Kantine am selben Tisch saß.
    ‹Du musst mich doch kennen›, sagte der junge Mann zu ihm.
    Sein Kollege stieß ihn in den Rücken und sagte: ‹Ich habe Sie noch nie gesehen.›
    Auch sein Vorgesetzter erkannte ihn nicht. Er wollte auch gar keine Erklärungen hören, sondern befahl nur seinen Mitarbeitern, den Eindringling auf gar keinen Fall loszulassen. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, stellte sich vor den jungen Mann hin und durchsuchte dessen Taschen. Als er die Ausweiskarte fand, sagte er:

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