Zeig mir den Tod
die Dächer für Sekunden in ein grelles, fast unwirkliches Licht.
»Schläft.« Ehrlinspiel beneidete seinen Freund, der jetzt bei der molligen Lilian im warmen Bett seines Reihenhauses lag. Allerdings auch erst seit sieben Uhr früh, denn Freitag hatte mit Lorena der Obduktion beigewohnt.
»Dann nimm Jo mit. Aber erst« – er musterte Ehrlinspiel – »ziehst du dich um. Und sobald Freitag da ist, haust du dich zwei Stunden aufs Ohr. Ich möchte nicht, dass mir meine Leute zusammenklappen. Wir haben eine Hundertschaft am Leichenfundort, dazu Helfer von der Feuerwehr und dem THW und Hunde. Sie durchkämmen jedes Moosbüschel und schauen hinter jeden Grashalm. Das Mädchen muss in der Nähe sein. Es
muss
einfach!«
»Mit der Familie stimmt etwas ganz und gar nicht.« Jo strich sich über den Schnauzbart und schob dann Akten in vergilbten Umschlägen vor sich hin und her. »Irgendetwas haben die zu verbergen. Ich wette, es hat mit Annika zu tun.«
»Ihr habt doch damals alles auf den Kopf gestellt! Ihr habt drei Jahre lang gesucht.«
»Ich kenne jedes Detail, das da drinsteht.« Er klopfte auf die Akten. »Wir haben die Eltern verdächtigt. Lange Zeit. Als ich jetzt diesen Stein da mit der Inschrift
Wir vermissen dich
gesehen habe … Aber wir haben den Garten damals umgegraben. Bis in den hintersten Winkel.«
»Du verdächtigst immer noch den Vater«, sagte Lederle.
»Leute, der Typ ist abgehauen! Wir –«
»Wir suchen ihn. Aber primär das Mädchen.«
Jo strich wieder über seinen Schnauzbart. Dann fragte er: »Was ist mit dem Mantrailer?«
»Sherlock und sein Hundeführer sind angefordert. Aber ihr seht ja das Wetter.«
»Im Theater war nichts Auffallendes zu beobachten. Weder im Publikum noch von den konspirativen Wohnungen aus. Die Auswertung der Videoaufnahmen läuft noch.«
»Ist ja auch logisch. Irgendetwas ist schiefgegangen. Marius war nicht mehr in Gefangenschaft. Folglich hatte der Entführer nichts mehr davon, zu behaupten, Assmann sei nicht der Vater. Assmann hätte das für ein totes Kind nicht tun müssen, oder?«
»Der Typ oder die Typen hatten und haben aber vielleicht noch Rebecca.«
Kurz schwiegen alle. Die Situation schien zu verworren. Zu viele Fragen, zu viele Wenns und Abers. Rebecca passt nicht richtig in die Situation, dachte Ehrlinspiel. Es ging von Anfang an nur um Marius. Um
seinen
Vater. Und Marius war derjenige, der sich seit einem halben Jahr sehr verändert hatte. Schlechte Noten, keine Besuche mehr bei der Großmutter. Was war mit dem Jungen geschehen? Wusste diese Nessy doch etwas?
»Ist über das anonyme Telefon irgendetwas Brauchbares eingegangen?«, unterbrach jemand die Stille.
»Nur ein Hinweis war relevant«, sagte ein Kollege vom KDD . »Erinnert ihr euch, dass ein Zeuge sagte, die Kinder seien verdreckt gewesen? Ein Mann aus der Straßenbahn, der hinausgesehen hatte?«
»Mhm.«
»Eine Frau hat sich gemeldet. Sie sagt, sie habe die beiden Hand in Hand über die Straße laufen sehen. Am Rand seien sie hingefallen, in den angetauten Schnee, wo auch fauliges Laub vom Vorjahr lag. Sie habe Hilfe angeboten, aber Marius habe gesagt, alles sei okay. Die Kinder seien aufgestanden, und sie ist gegangen.«
»Was uns nicht weiterbringt, aber zumindest das mit den dreckigen Kleidern klärt.«
»Ansonsten gibt es etwa zwanzig Mariusse«, fuhr der KDD -Mann fort. »Und noch mehr Rebeccas. Am Tag ihres Verschwindens hat jemand die beiden am Tiergehege Mundenhof im Streit mit einem Mann mit Krücken gesehen, gleichzeitig haben sie an der Autobahnauffahrt Richtung Basel gestanden, und eine halbe Stunde später bestiegen sie mit geschwollenen Gesichtern einen Flieger am Airport Karlsruhe-Baden. Eine Sekte hat sie mitgenommen und will sie als Gottesopfer nach Südamerika verschiffen, und eine Frau raunte ins Telefon, ihr Mann habe die Nieren der Kinder gegrillt und sie ihm das Sauerkraut dazu gemacht.«
Ehrlinspiel stöhnte.
»Der Vater war es, wie immer bei Entführungen, die Mutter, ein Onkel, den es gar nicht gibt, ein Freund, der Hausarzt …« Der KDD -Kollege sah auf. »Die Liste ist lang. Bis wir jeden Hinweis überprüft haben, dauert es Tage. Alles Vielversprechende haben wir schon durch. Sackgassen.«
»Was ist mit den DNA -Analysen der Familie?« Ehrlinspiel konnte ein Gähnen nicht unterdrücken, doch innerlich war er hellwach.
»Schätze, die bekommt ihr heute Abend. Unser Labor hat euch vorgezogen.« Larsson lächelte süffisant. »Dann wisst ihr, ob
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