Zeilen und Tage
Frage, daß die Weltseele Hufe hatte. Nirgendwo sieht man das so deutlich wie auf dem Bild von David, auf dem der Korse zur Alpenüberquerung aufbricht, in einer Haltung, die alles besagt. Für den Reiter-Kommandeur der Zukunft gilt kein Hindernis.
11. August, Wien
Den Verfall der Industriestadt Turin liest Eric Hobsbawm an der Tatsache ab, daß British Airways die Direktflüge von London gestrichen hat und sie den Billigfluglinien überließ: Es fehlen inzwischen die Business-Class-Reisenden von Fiat, die die Linie rentabel gemacht hatten.
Du hast eine Mission? Oder nur eine tragbare Illusion?
Gesichter und Masken des 20. Jahrhunderts:
Der Neue Mensch
Der Barbar
Der Bastard
Der Berufsrevolutionär
Der Erste Mensch
Der Letzte Mensch
Der Endverbraucher
Der Fan
Der Vampir (der Adlige im Exil)
Der Zombie
Der unbekannte Soldat
Der Massentourist
Der Promi
Der Wettkandidat
Wer sich für das psychologische Geheimnis der Moderne interessiert, sollte nach dem Selbsthaß des Rebellen fragen, der sich selbst nie rebellisch genug findet, nie radikal genug, nie genial genug, nie diskontinuierlich genug. Der entfesselte Romantiker befiehlt sich selbst: verblüffe mich! Er verabscheut sich, weil es ihm regelmäßig mißlingt, sich selbst zu beeindrucken. Nur als Verbrecher kann der Rebell sich vom Verdacht der Banalität befreien. Das Blut der anderen, das an seinen Händen klebt, beweist ihm, er war doch nicht wie die überzähligen vielen.
Flaubert hatte den Ton gesetzt, als er statuierte: Mit dem Krämer ist keine Versöhnung möglich. Was tun, wenn die Rebellen spüren, wie viel sie selber noch vom Krämer in sich haben? Dann liegt der Aufbruch in den Barbarenwinter nahe. Es waren die zweitklassigen Künstler, und mehr noch die Unbegabten, die sich im 20. Jahrhundert in den Radikalismus retteten. Nach dem blutigen Fest machten sie geltend, sie hätten nur einem Theaterstück applaudiert, doch nie selbst an Massakern teilgenommen.
Das 20. Jahrhundert wird nicht durch den psychoanalytischen Begriff der »Vaterlosigkeit« erhellt, sondern von dem genealogischen Terminus des »Bastards«. Er liefert den psychopolitischen Schlüssel zum Verständnis eines Großteils der Kulturumwälzungen in dieser Zeit. Es sind die Voraussetzungslosen und Enterbten, die die tote Masse des zivilisatorischen »Erb-Guts«, später »Archiv« genannt, in wilden Synthesen an sich reißen. Sie eröffnen das Zeitalter der Plünderer, der Monteure, der Hybrideure, der Poseure. Ihre basalen Attitüden sind Neustart, Nullpunktverhalten, Referenzlosigkeit, symbolische Illegitimität, Métissage, Respektlosigkeit. Was sie zustande brachten: eine Kultur der herrenlosen Hunde, die in die Position des Herrn drängten.
Nun stellen sich neue Fragen: Was ist der Unterschied zwischen einem Idioten der Familie und einem Bastard? Was macht die Differenz zwischen einem Bastard, einem Muttersohn und einem Sohn von Gottes Gnaden aus? Fils de droit divin, sagt Sartre über Baudelaire – und über sich selbst.
Und die Söhne von Nazi-Vätern in Deutschland, die in der BRD mit Moralhüterei und Republiksicherheitsdienst Karriere machten, liefern nicht auch sie Varianten der bastardischen Dynamik? Sind sie, die Söhne von entehrten Vätern, nicht noch bastardischer als die gewöhnlichen Bastarde? Ist es nicht verheerender, einen entehrten Vater zu haben, als der illegitime Sohn eines wirklichen Herrn zu sein oder der desorientierte Sohn einer sonst unbelasteten Vaternull? Sind sie nicht noch mehr als alle anderen zur Flucht in eine falsche Seriosität verdammt? Und ihre Schüler, inzwischen selbst fast schon Honoratioren, enttäuscht, herzkrank, vergiftet, ausgemustert – in welche Falle sind sie gelaufen, als sie sich an die überkompensierenden älteren Söhne anlehnten?
12. August, Wien
»Sancta illusio, ora pro nobis.« ( Stern der Ungeborenen , S. 318)
Der Obere des Ordens vom Kindhaften Leben doziert: Es gibt keine Treppe, solange man von jeder Stufe überzeugt ist, sie sei die letzte. Einen einzigen Grund zur Scham haben die Bewohner der astromentalen Zukunftswelt noch: Man hat den Tod zu Menschenwerk gemacht und ihn auf diese Weise profaniert.
Wenn man liest, wie Marcel Gauchet, nomen est omen, den jungen Franzosen empfiehlt, mit der Komödie der Radikalität fortzufahren und dabei immer weiter zu gehen als jeder Rivale, sieht man mit einem Mal: Auch Franzosen haben manchmal genug Humor, um Landsleuten einen bösen Rat zu geben.
Mit der
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