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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sommerlichen Erholung kommt der Leichtsinn. Ich sage eine Rede für die Eröffnung des Architektur-Festivals Rotterdam-Amsterdam Ende September zu. Belastender verspricht die Einladung ans Istituto per gli Studi filosofici in Neapel zu werden, wo man mir den Einleitungsvortag zu einem Symposium anläßlich des fünften Todestags von Jacques Derrida Anfang Oktober anbietet – das läuft auf Arbeit hinaus. Zu allem Überfluß ein Referat vor Architekten und Unternehmern Ende Oktober im Sprengel Museum Hannover. Als Überfluß zum Überfluß soll es Ende Oktober eine Rede über Odysseus geben im Rahmen des Ruhr-Theaterfestivals von Dortmund.
    In diesem Sommer wiederholt sich gelegentlich der Eindruck, ich sei einem geheimen Österreich auf der Spur. Seltsames Land, in dem ein Fischer kürzlich bei Gmunden einen 123 Zentimeter langen Hecht aus der Traun fangen konnte, was darauf hindeutet, es gebe noch Biotope, in denen ein unfaßbar verschontes Leben gedeiht. Für die Sphäre der Kultur scheinen analoge Bedingungen zu gelten. Während man an der Tagesoberfläche des von seiner politischen Klasse ausgebeuteten, blamierten und verhunzten Landes fast überall Schund und Schande findet, blühen in der zweiten Reihe, von wenigen bemerkt, intakte Schöpfungen aller Art.
14. August, Salzburg
    Leonard Bernstein: Glitter and be gay.
    Nacht des offenen Herzens. In einer Traumsequenz, die mehrere Stunden zu dauern schien, geschehen Zeichen und Wunder. Es beginnt mit einer religiösen Evidenz – ich kann es nicht anders nennen, obwohl ich meinen Privatkrieg gegen das Wort »Religion« nicht beendet habe. Die Wolken reißen auf, das Gute selbst ist anwesend und wird vom Träumer mit überfließendem Herzen bejaht. Der Gott der Liebe ist nahe, ich bin im Himmel bei ihm, verklärt, im Endgültigen angekommen. Pascal hätte einen neuen Rocksaumzettel geschrieben, um den Moment für immer festzuhalten.
    Später folgt ein Liebestraum mit brennenden Herzen, Tränen und fassungsloser Freude darüber, daß es in diesem Leben dergleichen geben kann. Wer die Frau war, mit der ich diese Empfindungen teilte, wußte ich nicht, aber ihre Identität war niemals fraglich, vielleicht war sie eine Besucherin aus der Sphäre der Archetypen.
    Finde in Camus’ nachgelassenem autobiographischen Roman Der erste Mensch eine Bemerkung über Kriegswaisen: »Söhne und Töchter ohne Vater, die dann würden lernen müssen, ohne Unterrichtung und ohne Erbe zu leben.« (S. 65)
    Man braucht nur Camus’ Buch neben Sartres Les mots zu legen und beide neben Kafkas Brief an den Vater – und man wüßte fast alles, was man über das Drama der Enterbung im letzten Jahrhundert wissen soll.
    Die Studie über die Bastarde ergibt die Fortsetzung von Du mußt dein Leben ändern mit genealogischen Mitteln. Sie sollte zeigen, wie der Umbau der Vertikalspannungen im 20. Jahrhundert zu allen möglichen improvisierten Missionen führt. Vielleicht kann man die jüngere bürgerliche Kultur insgesamt aus der Überkompensation der Illegitimität herleiten.
    Nicht von vornherein tritt der Enterbte als der neue Barbar auf die Bühne. Er erscheint zunächst viel eher als der Übererfüller der Normen, der Innovator aus übergroßer Loyalität, der umstürzende Bewahrer, der zum modernen Klassiker werden könnte. Erst wenn solche Anstrengungen zu nichts führen, beginnen die Demontagen.
    Im Fernsehen noch einmal die Salzburger Aufführung der Così fan tutte gesehen, die durch den Mehrwert, den die Fernsehbilder erzeugen, suggestiver gelungen erscheint als in situ.
16. August, Wien
    Der längste Radausflug des Sommers: Von Wien Mitte nach Hainburg an der Donau nahe der tschechischen Grenze, bei starker Sonne, immer am Wasser entlang, zurück via Schwechat und durch den endlos gedehnten 11. Bezirk, vorbei am Zentralfriedhof. Der Tagestacho zeigt 122 Kilometer.
17. August, Wien
    Bei Camus eine Beobachtung, wie Kinder den Krieg wahrnahmen: »eine Zeit, in der Arme und Beine verloren gingen«. (S. 202)
    Auch ein Kind, das in Armut aufwächst, empfindet etwas vom Glanz des Lebens. Das Elend beginnt, wenn die Gewöhnlichkeit über es hereinbricht. Gegen äußere Armut ist das Kindergemüt immun, doch der Lähmung durch die Niedrigkeit der Gesinnungen hat es nichts entgegenzusetzen, es sei denn, ihm gelingt die Flucht in die Träumerei.
    Europa: der Beweis, daß Dekadenz nicht weniger anstrengend ist als Blütezeit.
    Was für Kapriolen der brain hype schlägt: In einigen Betrieben

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