Zeilen und Tage
ab dem 120. Lebensjahr das Recht, Goldperücken zu tragen, und müssen sich mit Silberperücken begnügen – aber sie lieben es noch immer, in puncto Alter zu schwindeln. Es laufen dort nicht wenige 125jährige in Gold herum, die sich kokett für 110 ausgeben.
Werfel reist 100000 Jahre in die Zukunft, um dort Argumente zu suchen, warum man in unserer Zeit konservativ bleiben soll. Der Kern des Konservatismus wird im Stern der Ungeborenen offengelegt: Er besteht in der Verteidigung des Todes gegen seine Abschaffer. Die Apologie des Todes stützt sich auf die Annahme, der »Mißlungenheitskoeffizient des Lebens«, von den Religionen das Übel genannt, sei zu allen Zeiten gleich hoch. Warum also dem Fortschritt hinterherlaufen?
Und wenn das der größtmögliche Irrtum wäre? Wenn zwischen dem, was die Religionen Erlösung nannten, und dem, was die Moderne an Entlastung bringt, ein enger Zusammenhang bestünde? Wäre das kein Grund, von profanen Fortschritten wie Penicillin, Staroperationen und künstlichen Hüften etwas frömmer zu denken? Auch der Patient der Religion hat seit der Aufklärung das Recht auf eine zweite Meinung.
Das Wort »Mißlungenheitskoeffizient« hört sich seither verändert an. Man kann es nicht mehr ohne weiteres auf das Leben überhaupt anwenden, sondern nur noch auf die Operationen zu seiner Verbesserung.
Heute jährt sich zum 40. Mal der von dem Satanisten-Musikus Charles Manson in Auftrag gegebene Mord in einer Villa von Los Angeles, dem unter anderen die damalige Lebensgefährtin von Roman Polanski, Sharon Tate, zum Opfer fiel. Noch sitzen Manson und seine Clique in einem Gefängnis Kaliforniens, weil sie von der 1972 beschlossenen Abschaffung der Todesstrafe profitierten und von deren Wiedereinführung 1979 ausgenommen wurden. Es heißt, er erhalte noch heute Fan-Post und betrachte sich weiterhin als den wichtigsten Dissidenten der Erde – als den einzigen vollendeten Revolutionär, den Rächer der Erniedrigten und Beleidigten an der Klasse der Aufgeblähten und Erfolgreichen. Wie bekannt, hatte sein Anschlag anfangs einem Produzenten gelten sollen, der bis kurz vor dem Überfall die Tatort-Villa bewohnt hatte – einem Mann, der so vermessen gewesen war, die Musik Mansons abzulehnen. Als die Gang bemerkte, daß sich andere Gäste in dem Haus aufhielten, waren ihnen auch die als Schlachtopfer recht. Die Guns N’ Roses und andere Popgruppen lieferten dem Mörderkollegen eine symbolische Entschädigung, indem sie später aus einigen seiner Stücke internationale Hits machten.
Das Publikum wartet auf einen Musil, der die Geschichte der Massenkultur von Moosbrugger bis Manson erzählt. »Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehn«, hatte der Romancier um 1930 geschrieben. Die Traumtendenzen haben sich seither verschoben. Nicht mehr der Frauenmörder steht an ihrem geometrischen Ort, sondern der Prominentenmörder. In der Person von Sharon Tate hatte Mansons Bande genau die Übergangsfigur zwischen den beiden Kategorien von Verbrechen getroffen.
Eine Fußnote in dieser Geschichte würde Michael Jackson, dem verkorksten Kind, gehören, dessen Fans zur Zeit in Scharen nach Chicago strömen, wo an einer ägyptischen Statue eine vermeintliche Ähnlichkeit mit dem toten Sänger bemerkt wurde – für seine Gemeinde Grund genug zu behaupten, er habe vor 3000 Jahren schon einmal gelebt und werde folglich mühelos auch in Zukunft mit ihnen sein können.
Anläßlich der Krise des Bankhauses Sal. Oppenheim, gegründet 1789, wird daran erinnert, daß ein Großteil der Wiedergutmachungszahlungen an Israel in den fünfziger Jahren über diese Geschäftsadresse abgewickelt wurde. Die Bank, die angeblich 160 Milliarden Euro an Privatvermögen verwaltet, betreibt ihre Geschäfte seit kurzem von Luxemburg aus.
9. August, Wien
Das Schema von Basis und Überbau erscheint zum ersten Mal in einem eingeschobenen Satz bei Matthäus, in dem man Jesus den an Petrus gerichteten Kalauer aufsagen ließ: »supra hanc petram aedificabo ecclesiam meam.«
Abgesehen davon, daß der Aramäisch sprechende Jesus seinen eigenen Witz auf lateinisch oder griechisch nicht verstanden hätte: Schon an ihrem Beginn zeigen Kirchen die Schwäche, auf Felsunterbauten stehen zu wollen, die solider und älter sein sollen als die aufgesetzten Heilskonstrukte.
Das architektonische Mißverständnis der Kirche ist fast so alt wie diese selbst. Natürlich war der vorgebliche Felsenapostel ein Bote,
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