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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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propagieren schlaue business consultants neuerdings die »gehirngerechte Personalführung«.
18. August, Wien
    Juvenil radikal: Die Menschen noch gar keine Menschen, die Welt noch gar keine Welt. Kein Preis zu hoch, um aus Unmenschen Menschen zu machen, aus der Unwelt eine Welt. Die meisten sind ja erst Automaten, Nichtse, Roboter, und doch, Automaten, die eines Tages Rechte haben sollen.
    Hölderlin: Gipfel der neueren Sensibilität gegen die allgegenwärtigen Automatenmenschen. Hyperions Seufzer: »So kam ich unter die Deutschen.«
    Der Effekt, den man später Faschismus nennt, beginnt im 18. Jahrhundert mit der Aufwertung Spartas, insbesondere bei Rousseau, der nach dem Vorbild Montesquieus von den Spartanertugenden zu schwärmen beginnt. Man denke an die fatale Stelle im Emile , wo eine spartanische Mutter den Göttern dankt, als sie hört, fünf ihrer Söhne seien für einen Sieg ihrer Stadt gefallen. Voilà la citoyenne! Das ist das Unerträgliche an Rousseau: Als Schriftsteller erfindet er die Individualität, die er als Ideologe vernichtet.
20. August, Bad Aussee
    Mit dem Wagen durch Täler und Dörfer, an die das Gefühl spontan Höchstnoten vergibt.
    Ob nicht auch der Tourismus eine Manifestation der Automaten ist, die Rechte haben werden? Wir fahren vor, wir packenaus, wir richten uns im Zimmer ein, wir nehmen auf der Terrasse Platz, umgeben von übergewichtigen Reisenden. Männer mit Sonnenbrandgesichtern fassen ihre Begleiterinnen um die Hüfte. Der Chefkellner in der schwarzen Lederhose serviert einen lauwarmen Wodka – ohne eine Spur von Verlegenheit. Je später der Abend, desto zerknitterter die Gäste. Knarzend läßt sich die Party für ein spätes Glas auf der Veranda nieder. Jeden Moment könnte die allgemeine Erklärung der Automatenrechte verkündet werden.
    Kaufe bei Thalia in Bad Ischl Faltkarten für ganz Österreich im Maßstab 1 zu 200000. Für den Radfahrer heißt das: Ein Zentimeter auf der Karte sind fünf Minuten in der Wirklichkeit, bei halbwegs flachem Geländeprofil.
    Die deutschen Nachrichten sagen, es sei der heißeste Tag des Jahres gewesen mit Temperaturen bis zu 38 Grad.
    Die Enzianrispe zittert im Glas, die Tischkerze flackert in der Zugluft.
21. August, Leutschach
    Weiter an dem Buch von Bernard Yack The Longing for Total Revolution , das in seinem ersten Teil auf eine Abrechnung mit Rousseau hinausläuft. Ich kann dem Gedanken nicht ausweichen, daß es nicht die Franzosen waren, die das Illusionspotential des Rousseauismus ganz zur Entfaltung brachten, der prä-totalitären Entstellung der Revolution nach 1792 zum Trotz, sondern die Deutschen. Die zeigten 1871 und 1914, was sie von den linksrheinischen Ideen verstanden hatten. 1933 war das wahre Rousseau-Jubeljahr der deutschen Seele. Bei uns wurde die Idee der volonté générale als Volkskrankheit verwirklicht.
    In der SZ findet sich ein Artikel von Gustav Seibt über die Zerstörung der Demokratie durch das grenzenlose Moral-Mobbing,das sich der BRD-Presse bemächtigt hat. Es ist, als ob die Zeiger der psychopolitischen Uhr hierzulande doch vor 1939 stehengeblieben wären. Bei den Franzosen hatte das Halali schon 1793 begonnen, als die ums Überleben kämpfende Nation zu einer Jagdgemeinschaft gegen Frevler an der Einheit fusionierte.
    Man muß diese moralgeschichtlichen Singularitäten festhalten: Nur in der jakobinischen Phase der Französischen Revolution, in der völkischen Revolution der Deutschen und in der Russischen Revolution sah man das Phänomen, daß Kinder aufgefordert wurden, ihre Eltern bei den Instanzen der volonté générale zu denunzieren.
    Der äußere Anlaß von Seibts Aufsatz ist die Kampagne gegen die Gesundheitsministerin, der man geringfügige private Verwendungen ihres Dienstwagens zum Vorwurf macht. Aus einer freudianischen Perspektive würde man sagen, das Unbehagen in der Kultur der demokratischen Korrektheit zeigt sich in den regelmäßig abgehaltenen Treibjagden gegen ihre offiziellen Repräsentanten. Man scheint von den Politikern eine abstrakte Makellosigkeit zu verlangen, die keiner von den Mitkläffern in den Jagdrudeln vorzuweisen hätte. Ob man daraus folgern darf, man fordere im Ernst den fehlerlosen Menschen? Im Gegenteil, die Meute hat unruhige Beine, sie möchte rennen, bis der Speichel spritzt. Mit Jubel stürzt sie sich auf den Erstbesten, dem man einen Fehler vorwerfen kann. Bei Medienmachern ist die Lust am Vorwurf die am besten verteilte Sache der Welt.
    Was an den zahlreichen

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