Zeilen und Tage
Rezensionen zu dem Roman von David Foster Wallace Infinite Jest auffällt, ist die höfliche Gequältheit, mit der sich die Rezensenten dazu durchringen, das Buch epochal zu finden.
24. August, Wien
Notiz zur Massenkultur. In fast allen Belangen haben sich die vitalistischen Imperative der italienischen Futuristen durchgesetzt, bei der Motorisierung, beim Kult der Beschleunigung, bei der Verherrlichung der Energie, beim Lob der muskulären Fitness, bei der Vergöttlichung der Jugend, nur in einem nicht: Mit ihrer Forderung nach der Abschaffung der Nudel sind sie auf ganzer Linie gescheitert – ihr Protest gegen dieses erniedrigende Nahrungsmittel, das den Esser mit femininen, schlaffen, unheroischen Qualitäten infiziert, verhallte ungehört. Man hat das Kampfwort »Antipasta« nicht verstanden und statt dessen »Antipasti« gelesen. Die Welt ist weiter auf Nudelkurs, die ganze Kultur ist Nudelküche geworden, das Pasta-Prinzip, derselbe Teig in Hunderten von Formen, hat die zeitgenössische Vorstellung von der Substanz unterwandert.
Ein cleverer Rezensent nennt das Buch von Wallace einen »Desorient-Express«.
Hugo Loetscher, Verfasser von Der Immune , ist gestorben. In einem Nachruf auf den Vielgereisten heißt es, bei ihm gerieten Memoiren stets zu einer »Autogeographie«.
Zum Stichwort »Seiteneinstieg«: Am häufigsten über die Bettkante der Mächtigen. Wer würde ihn bei der Matratze eines Outsiders probieren?
Talleyrand im 21. Jahrhundert: Wer nicht vor dem 11. September gelebt hat, weiß nichts von der Süße des Lebens.
27. August, Karlsruhe
Wieder eine Mütze voll Gleichzeitigkeit. Im Radio ein Bericht über den Stand der Überwachung von Filzstiftsicherheit in Österreich. Im Fernsehen ein Feature über ein Zauberer-Festival in Lissabon. Im Nachtprogramm eine Pornoreklame-Attacke aus der Kategorie Siebzig plus.
Der realistische Romancier leidet heute unter der Schwierigkeit, daß er mit der natürlichen Polythematik der Alltagsinformationen konkurriert. Er sieht nicht, wie er sich anstellen müßte, um das Rennen zu gewinnen.
Kannst du dir Hegel vor dem Fernseher vorstellen? Mit der Fernsteuerung in der Hand, wie er beim Umschalten erstarrt, sobald er nach Mitternacht auf einen Schmuddelsender gerät, in dem für Anrufe bei extremfeuchten Girls geworben wird, die keuchend Telefonnummern nennen? Was für Fragen in ihm aufkommen würden? Wie er seinen Begriff vom »Wesen« modifizieren müßte, um mit einem solchen Zuwachs an »Erscheinung« zurechtzukommen?
28. August, Karlsruhe
Erneut eine Weibeliade: P. entdeckt einen angeblich vergessenen Termin und reist von einer Stunde auf die andere ab nach Graz, ohne Rücksicht auf die Verabredungen, die fürs Wochenende getroffen waren. Kein Mensch hat je herausgefunden, wie er es fertigbringt, seinen Terminkalender nicht zu kennen. Es muß eine Art von Verdrängung geben, von der die Psychoanalyse nichts weiß. Wahrscheinlich lebt er in einer milden Form von Wahnsinn, wie ein Sträfling, der überzeugt ist, die Gefängniswände seien Fiktionen. Er denkt, wenn er nur will, spaziert er aus seiner Zelle ins Freie. De facto bleibt er, wie so viele von uns, in seinemTerminkäfig gefangen, als hätte ihn ein unsichtbares Femegericht zu lebenslanger Zwangsarbeit unter minderwertigen Prioritäten verurteilt. Deleuze hat Artaud gelegentlich einen Vigilambulen genannt, einen Wachwandler, der Ausdruck würde auf die meisten von uns Terminbesessenen passen.
Die Beschäftigung mit Derrida im Blick auf die Konferenz in Neapel kommt sehr gelegen, da sie Gelegenheit gibt, das bastardische Problem an einem Zeugen des Jahrhunderts zu überprüfen. Beim Wiederlesen von Derridas Reden bei der Entgegennahme des Adorno-Preises 2001 in Frankfurt und der Gadamer-Gedenk-Feier 2003 in Heidelberg springt das Problem der bastardischen Position sofort ins Auge: In seiner Karriere ging es von Beginn an um die Frage, wie sich die Herkunft aus der Illegitimität in eine neue Form von Legitimität verwandeln ließe. Wie mußte ein Mann ohne Erbe, ein Zugewanderter, der mit leeren Händen in die Metropole gekommen war, sich intellektuell verhalten, um einen Platz im Zentrum zu erobern – und wie sollte er verfahren, nachdem er erfolgreich war?
Wie kommt es, daß mir bei der Lektüre der beiden biographisch gefärbten Stücke – auf dem Höhepunkt der »Anerkennung« verfaßt – unbehaglich zumute ist? Allzu betont redet der Autor davon, wieviel er den deutschen Autoren
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