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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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mit der Weigerung, den »Klang der Steine« in den Gebäuden der überlegenen Feinde zu hören. Über Ikonoklasmus wurde viel geschrieben. Wo ist das Buch über den Architektoklasmus? Was wissen wir von der Geschichte der geschleiften Mauern, der niedergelegten Tempel, der abgerissenen Paläste? Möglicherweise fehlt hier ein Oberbegriff für den werkfeindlichen Reflex als solchen. Wahrscheinlich sind Bildersturm und Gebäudesturm gemeinsam Ausdrucksformen eines uralten erbitterten Vorbehalts gegen das große Menschenwerk überhaupt, Projektionen des Ergoklasmus, der Unfreude am Werk des anderen. Es gibt eine okkulte Weltgeschichte des Ressentiments gegen alles, was groß, künstlich, und anspruchsvoll ist, von der chinesischen Mauer bis zum World Trade Center.
    Die Karlsruher Freunde weit verstreut: Peter W. in Rom, um mit Bertolucci über eine Ausstellung zu sprechen; Wolfgang Rihm in Stuttgart bei einer Aufführung eines neuen Werks; Andrei Ujica in Bukarest bei Arbeiten zu seinem Ceaus¸escu-Film; Boris in New York auf dem neuen Posten.
    Žižek erklärt in der Frankfurter Rundschau , inwiefern der Fall der Mauer von Illusionsdynamiken profitiert hatte. Man wollteFreiheit, gewiß, aber man wollte sie umsonst; man wollte Teilhabe am westlichen Wohlstand, ebenfalls umsonst; man wollte Sicherheit, und auch die umsonst. Wir stecken noch zu tief in den dominanten Illusionen, um das Buch schreiben zu können, das unsere Zeit in Gedanken faßt. Sein Titel wäre: Das Prinzip Gratis.
    Versenke mich anläßlich der französischen Übersetzung von Sphären II, Globen noch einmal in das Monsterbuch, das man am besten als das Mausoleum der klassischen Metaphysik besuchen sollte, ein Buch, das wie ein Pantheon in Worten die monosphärischen Großkonstrukte des Denkens versammelt, gemacht, um jahrelang ungelesen in den Bibliotheken zu stehen, bis irgendwann ein Leser sich findet, der ahnt, wozu eine raisonierte Geschichte der Metaphysik gut ist.
7. November, Karlsruhe
    Blinder Fleck in actu: Edmond de Goncourt klagt bei der Einweihung des Flaubert-Denkmals in Rouen am 23. November 1890 – in Gegenwart von Zola, Daudet und Maupassant –, die Literatur stehe vor der Gefahr der »Industrialisierung«, ausgerechnet er, der zusammen mit seinem 1870 verstorbenen Bruder Jules für das Heraufziehen der bezeichneten Gefahr mehr als jeder andere Autor seiner Zeit getan hatte. Im übrigen ist dank des Tagebuchs von Edmond die Menüfolge des Festessens nach der Denkmalenthüllung überliefert, ebenso wie die Themenflucht, die während der munteren Tischgespräche absolviert wurde, vom Sieg der chinesischen Rasse und den neuen Therapien des Doktor Koch bis zu den Schriften der Asthmatiker, die man an den beim Atemnotanfall entstehenden Tintenflecken auf dem Manuskript erkennt.
    1866 hatten die Goncourts notiert: »In der Provinz ist schon der Regen eine Zerstreuung.«
    Das Wiederlesen von Sphären II bringt für mich eine Überraschung: der Ausdruck »Vertikalspannung«, der Schlüsselbegriff von Du mußt dein Leben ändern , taucht schon zehn Jahre zuvor in Globen , S. 427 auf.
    Der Briefwechsel zwischen Flaubert und den Goncourts enthüllt das ganze System des Parisianismus, das 100 Jahre später noch genauso funktioniert, eine ewige Guerilla aus unzufriedenen, polemischen, intrigierenden Intelligenzen, die mit jedem Satz ein vergiftetes Stilett ins Feld führen. Edmond schlägt in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts für diesen Zustand den Ausdruck »Mediokratie« vor. Als Novemberlektüre sind diese Briefe nicht zu empfehlen. Man wird Zeuge eines Austauschs zwischen falschen Freunden, die sich gegenseitig wie Göttern schmeicheln und sich zugleich gegenseitig für ausgebrannte Philister halten.
9. November, Karlsruhe
    Martial: Saepe soloecismum menula nostra facit: »Oft unterlaufen meinem Schwanz barbarische Wendungen.« Lieber Kollege, besser zuweilen ein Barbarismus, als den Satz nicht zu Ende bringen.
    »Viermal kann ich in einer Nacht, wenn aber ich mit dir, Telesilla, in vier Jahren einmal kann, dann hol mich der Teufel.« Una nocte quater … unterm Tisch, da hockt der Kater.

Heft 105
    10. November 2009 – 27. Februar 2010
10. November, Karlsruhe
    Die Spekulationen und Kommentare zum Zusammenbruch der Arcandor-Gruppe (Karstadt, Quelle, Hertie, KaDeWe) haben ein gemeinsames Merkmal: Sie gehen wie blind über die Tatsache hinweg, daß in Konkurrenzsystemen modernen Typs Fehlschläge dieser Art »normal« sind.

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