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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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muslimischen Eroberung überstanden, so hätten die Europäer im Mittelalter nicht nur das Heilige Grab, sondern auch das Alexandergrab zum Kreuzzugsziel erklärt. Hier wie dort war jeweils ein Dreiunddreißigjähriger begraben worden, der von der Idee der Gottessohnschaft durchdrungen war. Die mittelalterliche Literatur verrät, daß für die Adels- und Rittergesellschaft die Nachahmung Alexanders eine ebenso attraktive Leitidee bot wie die Nachahmung Christi. Ja, man darf fragen, ob die Züge zur Befreiung des Heiligen Grabes nicht insgeheim auch Imitationen der Alexanderzüge waren.
8. März, Karlsruhe
    Creative writing. Sag auf keinen Fall: »Die Frau war splitternackt.« Schreib: »Die Lady war barfuß bis zu den Ohrringen.«
    Pessoa zitiert Gabriel Tarde: Der Mensch strebt nach dem Unmöglichen auf dem Umweg über das Nutzlose.
    Kathryn Bigelow geht aus der Oscar-Nacht als große Siegerin hervor – die erste Frau, die mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. P. schreibt ihr sofort, um zu gratulieren. Er kann es nicht lassen, mir von einer Begegnung mit ihr vor vielen Jahren zu erzählen, bei der er sich zwischen Romanze und Müdigkeit entscheiden mußte. Noch immer weiß er nicht, ob er die richtige Wahl getroffen hat.
10. März, Wien
    Im Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier entsteht der Plan zu einer Reihe von Diskussionsveranstaltungen im Umfeld des Bundestags, mit denen Intellektuelle wieder näher an die SPD herangeführt werden sollten. Bei dem ersten Versuch im Sommer, an dem ich teilnehmen werde, könnten Paul Kirchhof oder Peer Steinbrück die Gesprächspartner sein.
11. März, Wien
    Celebrity activism reconsidered. Nach jüngeren Berichten sollen große Anteile der von Bob Geldof beim Band Aid Concert 1984 in Großbritannien zugunsten von Hungernden in Äthiopien gesammelten Spenden – man spricht von 65 Millionen Pfund – in die Hände lokaler Warlords geraten sein, die das Geld für Waffenkäufe und den Aufbau von Propagandastrukturen benutzten. Geldof beschimpft die BBC, sie habe ihre Berichterstatterpflicht pervertiert. Die Wahrheit ist, der Sender hat an einem einzelnen Fall die perverse Kollaboration der westlichen Philanthropie mit dem System der afrikanischen Korruption aufgedeckt.
    Beruf: Empathieplünderer
13. März, Wien
    Fast 80jährig ist Jean Ferrat in der Klinik von Aubenas in der Ardèche gestorben. Von ihm habe ich aus fernen Jahren mehr im Ohr behalten als von Ferré, Brassens, Brel und Trenet. In seinen Chansons lebten Nachklänge eines poetischen Kommunismus, der respektabel blieb, als der Osten längst nicht mehr rot war.
    Nietzsche redete von dem Menschen, der versprechen darf. Darin verbirgt sich der Hinweis auf die Geburt der Zeit aus dem Ehrgefühl dessen, der verspricht. Noch Hannah Arendt argumentiert nietzscheanisch, wenn sie sagt, die sicherste Methode, die Zukunft zu erkennen, bestehe darin, ein Versprechen abzugeben und es zu halten.
    Heute wäre über den Menschen zu sprechen, der warnen darf.
14. März, Wien
    Wie ist der statistische Befund zu deuten, daß in egalitären Gesellschaften mehr Selbstmorde, in inegalitären mehr Morde stattfinden?
    Diderot in einem Artikel über Naturrecht: »Der Mensch, der nur seinem eigenen Willen gehorcht, ist ein Feind der Menschheit.« Dies wird der Feind sein, dem man nicht vergibt. Wenige Jahrzehnte später schreibt Schikaneder: »… wo Mensch den Menschen liebt/kann kein Verräter lauern, weil man dem Feind vergibt./Wen solche Lehren nicht erfreun,/Verdienet nicht, ein Mensch zu sein.« Von dem Augenblick an, in dem die Ethik auf den Standpunkt der volonté générale gebracht wurde, enthüllt sich, daß sie ohne einen Ausgeschlossenen keinen Bestand hat.
    Jede Demokratie, die längere Zeit existiert, führt zur Entzauberung des Volkes. In den magischen Morgenstunden der Demokratie kann ein elanvoller Teil des Volkes behaupten, das ganze Volk zu sein. Als Hort seiner Ganzheit spricht sich das Volksfragment selbst heilig. In der abgeklärten alten Demokratie haben alle Beteiligten begriffen, daß das ganze Volk nicht mehr ist als die Summe aller Klientelen.
18. März, Karlsruhe
    Die Devise der Kunstszene: How low can you go? Gunter Damisch, früherer Kollege von der Akademie am Schillerplatz, benutzte kürzlich im Gespräch diese Formel, um die Zustände an dem Haus zu beschreiben. Über Jahre hinweg habe der Rektor Schmidt-Wulffen nichts unterlassen, was geeignet war, statt eines Kollegiums eine Gefolgschaft

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