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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Flucht nach vorn. »Wir sind endlich auf der Insel der Freiheit gelandet und haben das Schiff verbrannt, das uns zu ihr brachte.«
    Der Königsmord war das initiale Sakrament der republikanischen Politik. Nur wer ihn mitbeging, erwies sich als stark genug für die neue Zeit und die neue Verfassung. Nach Möglichkeit sollte darum das ganze Volk zum Komplizen des Verbrechens werden. Gleichzeitig wurde der Mord am Monarchen in eine juristische Prozedur eingekleidet, indem man ihn als die gerechte Bestrafung des letzten Tyrannen der Franzosen inszenierte. Den König nannte man in den Akten der Anklage allen Ernstes einen »Rebellen« und einen »Vatermörder« (parricide) – als stünden die Akteure des Dramas unter dem Zwang, die wahren Begriffe für ihr eigenes Tun auf das Opfer zu projizieren.
    Das Resultat der Prozedur dementiert den Plan: Frankreich ist vom Augenblick der Hinrichtung Ludwigs XVI. an zutiefst gespalten – und bleibt es bis ins 21. Jahrhundert. Weit davon entfernt, sämtliche Bürger in den konstitutiven Mord zu involvieren, erreichen die Befürworter der Hinrichtung in der Bergpartei bei der entscheidenden Abstimmung des Konvents nur die knappste Mehrheit – 366 Stimmen von 721. Der französische Futurismus scheitert von der ersten Stunde an. Seither lebt das Land in seiner »progressiven« Hälfte von der Illusion, die eigentliche Revolution, bei der alle mitmachen werden, stehe noch bevor.
    Im Fernsehen ein Feature über »junge Kunst« in Shanghai. Was auffällt, ist der sachliche Ton, in dem die Jungen über alles mögliche reden, was bisher beschwiegen wurde. Sie haben gelernt, über den Orgasmus zu sprechen wie über den Smog von Peking.
    Der Ethnologe versteht: Die Chinesen, das sind eben die Leute, die es in China aushalten. Noch gibt es dort Ältere, die Sätze sagen wie: »Wir haben die Führung Mao Tse Tungs genossen.« Die Kunst, mit China zufrieden zu sein, hängt landesweit an der auch andernorts geübten Praxis, alle Beobachtungen auszublenden, die die Bemühung um innere Balance zunichte machen könnten. Dissidenz – als Aufmerksamkeit für das Unannehmbare – würde die Verankerung in einer Gegenkultur voraussetzen.
22. April, Karlsruhe
    Lese mit überwiegender Zustimmung Tony Judts Das vergessene 20. Jahrhundert , doch nur mäßig angeregt, da sich in dem Buch kein neuer Gedanke findet. Die Artikel sind in ihrer Mehrheit aus Anlaß von Buchbesprechungen für die Zeitschrift New Republic oder die New York Review of Books entstanden – etwa beim Erscheinen des Briefwechsels zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy. Eine gewisse Subalternität der Perspektive wird durch die Urteilsfreudigkeit des Rezensenten nicht ganz ausgeglichen. Die Liebe zum deutlichen Urteil, die seine Stärke ist, stellt zugleich Judts Gefährdung dar. Sie verleitet ihn, mit einer leichten Überdosis an Respektlosigkeit über Autoren zurichten, die ihm in fast jeder Hinsicht überlegen sind, so etwa, wenn er auf Hannah Arendt oder Albert Camus zu sprechen kommt.
    In anderen Kontexten ist seine Urteilshärte produktiv. Etwa wenn er, so nüchtern wie melancholisch, den Ruin der vormals großen französischen Philosophie konstatiert: Von den Giganten der Vergangenheit sei nur wenig mehr geblieben als »ein Trümmerhaufen peinlicher Zitate«. Mit unnachgiebiger Aufmerksamkeit stellt Judt die Lebenslügen der kommunistischen Intellektuellen bloß und ertappt die ambivalenten »Weggefährten« bei ihren Ausflüchten. Hierin ist er der verläßlichste unter den liberals geblieben.
    Lynn Hunt (S. 113f.) erinnert an das von Jacques Hébert zwischen 1790 bis 1794 edierte Agitationsblatt Le Père Duchesne : Es lieferte den Prototypus populistischer Hetzliteratur, spezialisiert auf die Mobilisierung von Haßphantasien bei einem gerade erst alphabetisierten Publikum und auf antiroyalistische Pornographie. Unter dem Vorwand des Einspruchs gegen soziale Mißstände setzte es auf die Auslösung tötungslustiger Reflexe. Mit den volkstümlichen Flüchen eines Ofensetzers, der dreimal pro Woche seine grande colère unter das Volk von Paris hinausschrie, begann das haßpolitische Jahrhundert. Bemerkenswert ist, daß nach 1791 ein gut Teil der Auflage kostenlos unter den Soldaten der Revolutionsregierung verteilt wurde. Doch frißt der Haß auch seine Redakteure: Im März 1794 fiel Héberts Kopf unter der Guillotine.
23. April, Karlsruhe
    Rausch, Flug, Glück – drei Jahre Nüchternheit gegen eine animierte Stunde.

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