Zeilen und Tage
kriecht durch die Wände des Palazzo. Durch Weinverkostungen auf nahe gelegenen Gütern hält man ein wenig dagegen. Die Toskana geriert sich vor dem Montepulciano-Hügel wie eine graue Bühne, an der noch einiges zu reparieren ist, bevor sie als Hintergrund für Lustreisen wieder vorzeigbar ist.
Was den vielzitierten Tod des Subjekts angeht, hat die Massenkultur klüger reagiert als das philosophische Seminar. Sie ging den Weg des Ressentiments gegen den Helden nicht zu Ende, sondern schloß rechtzeitig den Kompromiß der Entzauberung mit dem unzerstörbaren Bedürfnis nach der Heldenverehrung, wäre es auch nur in der Gestalt der celebrities.
Bolz notiert: Die Heldentat kennt weder Risiken noch Nebenwirkungen. Ihr Horizont ist die Gefahr, ihre einzige Sorge ist die Ehre. Was wir heute die Depression nennen, war in der Heldenzeit die Entehrung.
5. April, Karlsruhe
Nach der Rückkehr in die eigenen Wände weiter an Everett. Er beschreibt das harte Leben der »Caboclos« genannten Mestizen in den Wäldern, das sehr von ferne an die karge Existenz der Schwarzwaldbauern vor 1914 erinnert. Der ländliche Vorsokratismus ist die Daseinsstimmung von Leuten, die nicht wissen, ob sie die nächsten Monate überstehen.
Der Missionar Everett zitiert einen Eingeborenen: »Wir wollen Jesus nicht, er ist kein Pirahã.« A contrario kann man aus ihm die implizite Botschaft aller Zivilisationsbringer herauslesen: »Ihr sollt euch von Gütern abhängig machen, die ihr bisher nicht gebraucht habt!«
Wer andere bekehren will, riskiert, von den zu Bekehrenden bekehrt zu werden. So geschieht es hier: Zu guter Letzt streckt der Missionar die Waffen. Er läßt den christlichen Glauben fallen und schließt sich der Lebensauffassung der glücklichen Menschen am Fluß an.
6. April, Karlsruhe
Man kann nicht sagen, die Islamisten seien in puncto Kulturkampf nicht auf dem Posten. Es soll im Irak eine Fatwa gegen klassische europäische Musik gegeben haben, die man als subversiven nicht-islamischen Import verwirft. Angeblich wurden junge Leute bedroht, wenn man sie mit einem Geigenkasten auf der Straße sah.
Kaum eine Gruppe von Personen ist spirituell so unterversorgt wie die Besitzer großer Vermögen. Über ihr Dasein ziehen ständig die Tiefdrucksysteme der üblen Wünsche hinweg. Von der anderen Front nähern sich die als Bewunderung getarnten Enteignungsphantasien falscher Freunde.
Kulturpessimisten: mürrische gate keeper am Eingang zu den Schatzhäusern der Hochkultur, die spüren, daß niemand mehr durch das von ihnen bewachte Tor gehen will.
Beruf: Oligarchenseelsorger
7. April, Karlsruhe
Ulrich Raulff, angeregt durch einen Bericht der FAZ über den Berliner Abend mit Heiner Geißler, schlägt vor, an einer Ausstellung in Marbach zum Motiv »Schicksal« mitzuwirken.
9. April, Wien
Der Parteienforscher Franz Walter über die Ideologie der FDP: »neureiches Cash-Denken«.
10. April, Wien
Wenn Niall Ferguson statuiert, Imperien hätten die plötzliche Implosion zu fürchten, ist das mit Blick auf die USA gesagt. Für Europa gilt eher das Schema des langsamen Abstiegs, weswegen man dem Phänomen Venedig nie genug Aufmerksamkeit widmen kann.
11. April, Wien
Sonntagmorgen. Das Haus in völliger Ruhe. Der Vater am Schreibtisch. Rauchringe vor dem Bildschirm. Die Sonne läßt die Wand des gegenüberliegenden Hauses aufleuchten. Nun könnten die Bleibeverhandlungen mit dem Leben beginnen.
»Das russische Volk trauert gemeinsam mit den Polen.« Die Staatstrauer löst den Ernstfall des Decorum-Bewußtseins inmitten entritualisierter Verhältnisse aus. Entscheidend ist, daß in diesem Moment Kritik und Analyse schweigen – sofern man noch ein Gespür für das hat, »was sich gehört«.
Wer aber vorausschaut, sieht, was kommen muß: Sobald man nicht mehr das Bannwort »Tragödie« benutzen kann, um die Ereignisse zu beschreiben, sondern wissen möchte, was wirklich geschehen ist, wird eine riesige Welle von Vorwürfen und Verdächtigungen losbranden. Es müssen zehn Tage vergehen, dann wird man von Fahrlässigkeit sprechen. Ein paar Monate später wird man Begriffe wie Dummheit und Verbrechen verwenden. Die Blicke werden sich auf den maßgeblichen Passagier in dem abgestürzten Flugzeug richten und ihn nach seinem Verhalten vor dem Unglück fragen.
12. April, Karlsruhe
Wer wußte, daß es an manchen katholischen Schulen bis in die siebziger Jahre den Brauch gab, zu Beginn des Schuljahres den Stock zu weihen, mit dem die Schüler zu
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