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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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dem großen algengrünen Becken die berühmte Schlußszene von Nostalghia gedreht hat.
    Der Liebhaber großer Blicke in die Landschaft müßte in der Toscana auf seine Kosten kommen. Doch das heutige Auge, das alles gesehen hat, hat den Blick aus dem Fenster verlernt, der am Beginn der Renaissance-Malerei das »Bild« als gerahmten Welt-Anblick entstehen ließ. Warum fasse ich kein rechtes Vertrauen zu diesen »Landschaften«? Ich habe den richtigen Standort noch nicht gefunden.
3. April, Montepulciano
    Heute versucht sich das Feuilleton von La Repubblica an dem österlichen Großthema la felicità, zu dem den Mitgliedern des vielsagenden Gewerbes wohl etwas einfallen sollte.
    Daniel Everrets Buch gewährt Einblicke in die vitale Rücksichtslosigkeit der Amazonas-Brasilianer. Die entscheidende Lektion findet sich gleich im ersten Teil des Berichts: Der Erzähler-Missionar will seine todkranke Frau und seine ebenfalls erkrankte Tochter auf dem Boot so schnell wie möglich ins nächstliegende Krankenhaus bringen. Der Bootsbesitzer weigert sich, ihret-wegen schneller zu fahren, ja, er unterbricht die Reise, um mit anderen Reisenden am Ufer ein Fußballspiel auszutragen. Wer sterben soll, wird eben sterben, lautet die Botschaft. Man ist Lichtjahre von der humanitären Aufgeregtheit entfernt, die unserem Wirklichkeitsentwurf zugrunde liegt.
    Im Dschungel klingt das Wort »Lebenserwartung« wie Hohn. Der kategorische Imperativ für das Leben am Fluß lautet: Tu, was du kannst, um nicht krank zu werden, denn helfen wird dir da draußen niemand. Im Haus des Seins gibt es viele Sterbezimmer, keiner darf sich beklagen, wenn er mit einem Mal vor der Tür des seinen steht.
    Was Heidegger die Lichtung nannte, sollte man besser als Schonung neu beschreiben. Wohnungsbau ist bei uns immer mit der Verwöhnung im Bündnis – wohnen und sich schonen kommenauf eins hinaus. Indessen werden dort alle Hütten auf granitenem Boden errichtet. Das Leben gehört den Härtesten, die von Provisorium zu Provisorium ziehen.
    Auch das westliche Nutzen-Denken ist von diesen Menschen niemals akzeptiert worden: »Pirahãs bauen keine Kanus«, heißt die Antwort der Indianer, als der Ethnologe, der ihnen den Kanubau gezeigt hatte, sie fragt, warum sie damit nicht weitermachen. Sie sind in dieser Hinsicht nicht bloß Vorsokratiker, sie ähneln auch den Taoisten, die das Unterlassen lobten und vor der Versklavung des Gemüts durch die Werkzeuge warnten. Sie unternehmen nichts und erfinden nichts, was sie in Abhängigkeit von neuen Erfindungen bringen könnte. Sie interessieren sich nicht dafür, daseinserleichternde Künste in ihre Lebensform zu integrieren. Sie wenden die beiläufig erlernte Kunst nicht an, sie lassen die geschenkten Werkzeuge im Wald verrotten. Was zeigt: Die Idee der Verbesserung ergibt in ihrem Weltbild keinen Sinn. Für sie sind Sein, Gutsein und Immersosein in solchem Maß identisch, daß der Wunsch nach Mehr und Anderem nicht den kleinsten Ansatzpunkt findet. Sie wohnen wirklich in der besten und daher unverbesserbaren Welt. Dies macht sie immun gegen die Zumutung, sich durch die Idee der Optimierung korrumpieren zu lassen.
    Everett vergleicht die physische Verfassung der Pirahã mit der von Tour-de-France-Fahrern. Sie sind von kleinem Körperwuchs, eisenhart, ermüdungsresistent, heiter, unsentimental und von der Lebenswichtigkeit der Fitness überzeugt, doch anders als die westlichen Sportsklaven von jeder Ambition weit entfernt. Da sie das Am-leben-Sein als das einzige Privileg betrachten, wissen sie nicht, nach welchem Vorzug sie zusätzlich streben sollten.
    Mysteriös ist nicht nur die Abwesenheit von Zahlwörtern in der Pirahã-Sprache, sondern auch die Resistenz des Pirahã-Bewußtseins gegen die bisherigen Versuche, ihnen den Nutzen des Zählens vor Augen zu stellen. Der Missionar muß nach vielenMonaten seine Bemühungen aufgeben, den Indianern den Sinn von Wörtern wie zwei, drei, vier beizubringen. Dennoch ist die Existenz eines unbewußten Zählens bei ihnen zu postulieren, da sie imstande sind, Wörter mit dreimaligem, viermaligem, fünfmaligem Vorkommen der Vokale a oder i zu bilden, die je nach Anzahl der Vokal-Wiederholungen völlig verschiedene Dinge bezeichnen.
    Vorösterliche Kühle. Die Bäume im spätwinterlichen Zögern, die Reisenden im Anorack.
4. April, Montepulciano
    Der Ostersonntag bringt einen weiteren Absturz des Wetters, die Regenwolken hängen in den Tälern, eine unpersönliche Traurigkeit

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