Zeilen und Tage
Herzweitwurf.
25. April, Karlsruhe
Kleinanzeige: Mäntel des Schweigens aus zweiter Hand umständehalber günstig abzugeben.
Wo Religion war, soll runder Tisch werden.
George Weigel, Washington, erfolgreicher Biograph Johannes Pauls II. und elanvoller Apologet Benedikts XVI., geht mit Hans Küng hart ins Gericht, nachdem dieser jüngst dem aktuellen Papst die Mitwirkung an der Vertuschungspolitik des Vatikans hinsichtlich der seit Jahrzehnten bekannten Klagen über sexuellen Mißbrauch von Abhängigen durch Priester vorgeworfen hatte. Er portraitiert Küng als einen übermotivierten Störenfried, der aus persönlichen Gründen sinnlose Anklagen erhebt, von denen er selbst wissen müßte, wie unzutreffend sie sind – das Amt Ratzinger sei in Affairen der genannten Art nie direkt involviert gewesen. Also: Freispruch des späteren Papsts wegen erwiesener vormaliger Unzuständigkeit.
Streitkultur, katholisch: Nachdem Weigel den Gegner lege artis niedergemacht hat, schließt er seinen Artikel mit einem Gebet für den Gescholtenen.
Doch nein: Der Einsatz der frommen Schlußformel ist nicht katholisch, sondern ein Muster für hypokritisch-puritanisches Versöhnungs-Theater. Weigel tritt in der Angelegenheit wie der ewige College-Boy auf, der seinen Team-Leader wright or wrong verteidigt. Das wäre nicht verwerflich, wenn es nicht den Sinn für spirituelles Ranking trübte. Aus der Sicht des unbeteiligten Beobachters ist Weigel ein strukturell protestantisch agierender Zelot, dem es an Gespür für das essentiell Katholische mangelt: die geistige Hierarchie. Wäre er wirklich Katholik und bloß nicht ein Cheerleader des Papstsystems, müßte ihm klar sein, daß Küng geistig über ihm steht, möglicherweise auch über Ratzinger. Er müßte im Blick auf die spirituellen Landschaften des 21. Jahrhunderts begreifen, wie wenig das theologische Duell zwischen Küng und Ratzinger entschieden ist. Ratzinger verteidigt nicht mehr als das altrömische Revier, Küng, der das Christentum in historischen Blöcken und Paradigmen überschaut, denkt schon über die Form eines nach-römischen Glaubens-Netzwerks nach.
Zur Depression gibt es ab sofort ein abgeklärtes Gegengift mehr: Empirische Psychologen wollen eruiert haben, daß die bewußte Unterbrechung bzw. die intentionale Ablenkung von grüblerischen Haltungen – unabhängig vom Inhalt der mentalen Prozesse – die große Mehrheit der Versuchspersonen binnen kurzem zu einer deutlichen Verbesserung ihres Befindens bringt.
Das haben die Leichtsinnigen immer gewußt, die alle Angebote zum Nachdenken über düstere Themen spontan ablehnen. Was zeigt, daß der Habitus auch in der Neurose eine Schlüsselrolle spielt. Zugespitzt: Die Neurose ist nur eine schlechte Gewohnheit unter anderen und kann nach geeignetem Training durch eine bessere ersetzt werden. In der Therapie ist ebenfalls letztlich die Moral an der Macht: Das Nachdenken wird nur verordnet, wenn man möchte, daß ein Akteur sich schuldiger fühlt. Bei den übrigen ist die gute alte Dereflexion, vulgo Ablenkung, das Gebot der Vernunft.
Allgemeine Gläubigerphänomenologie:
A) Zuversichtliche Gläubiger
B) Gläubiger, die von Schußwaffen Gebrauch machen (in Mafiafilmen)
C) Gläubiger, die sich vom Schuldner erpressen lassen
D) Gläubiger, denen es nicht gelingt, den Schuldner zur Offenlegung seiner versteckten Defizite zu zwingen.
26. April, Karlsruhe
Zum Griechenland-Drama: Vielleicht ist das meiste, was wir Politik nennen, das Schönreden von Aporien und das Abdämpfen von Konflikten bis unter den Explosionspunkt, bei fortbestehendem Verdacht, diese müßten zu späterer Zeit um so heftiger in die Luft gehen.
Arnulf Baring: »Wir werden am europäischen Länderfinanzausgleich zugrunde gehen.« Andererseits heißt es, auch der Untergang am Nicht-Ausgleich sei im Angebot.
Bei Everett kann man erfahren, daß die Pirahã keine feste Zuordnung von Namen zu Personen kennen. Ähnliches berichtet der brasilianische Komponist Tato Taborda, der bei den Yamomami keinerlei Gebrauch von Namen beobachtet hat. »Niemand ruft andere herbei.« Es gebe nur Spitznamen, die nicht in Anwesenheit der Bezeichneten ausgesprochen werden. Diese Absenz des Appellativs fordert die Archetypen unserer Kultur heraus. Juden und Christen geben vor, zu glauben, daß Sein per se Angerufensein bedeutet. Eine ruflose Kultur würde Propheten und Professoren unmöglich machen. Schillers Glocke könnte nicht vivos voco sagen. Nietzsche könnte den
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