Zeilen und Tage
überflüssig machen, so doch zur Seite drängen.
17. Juni, Karlsruhe
Beruf: Kryptozoologe:
Experte für nie festgestellte Tiere
Ortega y Gasset verrät den politischen Generalnenner des 20. Jahrhunderts: Im Haß gegen den Liberalismus kommen alle seine Hauptströmungen überein. Das beginnende 21. Jahrhundert präsentiert sich hierin als gefährlich getreue Kopie des vorangehenden.
Antiliberal waren nicht nur die Faschismen bzw. »Totalitarismen« linken und rechten Stils, auch der Konservatismus war es, um vom vorkonziliaren Katholizismus nicht zu reden. T.S. Eliot denunzierte die USA im Jahr 1933 als »worm-eaten with Liberalism« – ausgerechnet zu einer Zeit, als Roosevelt seinen Sozialismus-analogen New Deal startete, um der Großen Depression entgegenzuwirken. Der Haß gegen die Freiheit – stets als die Freiheit der erfolgreichen Anderen aufgefaßt– ist das Vermächtnis des 20. Jahrhunderts an unsere Zeit. Die will nicht begreifen, auf welcher bekannten schiefen Ebene sie gleitet.
Abends in der HfG entwickelt Gunnar Heinsohn im Rahmen der Diplombürger-Seminare seine Thesen über die Perspektiven der Schrumpfvergreisung in europäischen Gesellschaften. Weltweit befinden sich bereits 64 Nationen im Zustand demographischer Rückentwicklung. Sie sind dazu verurteilt, bei der reziproken Kannibalisierung der Talente mitzumachen, ohne welche die Verteidigung des Lebensstandards in hochentwickelten Eigentumsgesellschaften nicht mehr zu denken ist.
20. Juni, Wien
Die Welt ist kein Gespräch, eher ein Komplex aus harten und weichen Stoffwechseln, von denen man die letzteren als »Kommunikationen« mystifiziert.
Das Monströse an Phänomenen wie Leninismus, Stalinismus, Hitlerismus, Maoismus usw. liegt darin, daß in ihnen nicht Träume, sondern Phrasen wahr wurden.
Utopismus, so Ortega, führt stets »eine radikale Unaufrichtigkeit mit sich«. ( Werke I , S. 355) Mehr noch: Alles, was bloß Effekt von »Bildung« ist, impliziert eine kräftige Dosis an Unaufrichtigkeit. Deswegen können Utopismus und Klassizismus über weite Strecken gemeinsame Wege gehen. Beide üben die Phrasenhaftigkeit als erstes Verhältnis zu den wesentlichen Lebensfragen ein. Der Glaube gehört zum Feld der Phrasenhaftigkeit, sofern glauben immer auch ein Navigieren in einer Welt aus Formeln bedeutet. Niemand ist gläubiger als der Mitläufer eines Phrasensystems. Für die Phrase ist es wesentlich, von ihrem Bekenner den Tribut der Hysterie zu fordern – als wäre jeder Einzelne ein Wahlkampfhelfer, der in einer Kampagne gegen die unüberzeugte Menge mitwirkt – und gegen die eigene Skepsis.
Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts war von der revolution of rising expectations die Rede, ein Konzept, mit dem man eine zunehmende Unruhe in den Ländern der Zweiten und Dritten Welt zu prognostizieren versuchte. Ganz schlüssig waren diese Vorhersagen nie, und sie blieben auch empirisch hohl, bis schließlich, als kaum jemand noch damit rechnete, dieser nordafrikanische Frühling zeigte, wozu gestiegene Erwartungen in islamisch geprägten Ländern fähig sind.
Heute sitzen vor allem die Populationen der stagnierenden Volkswirtschaften in der Ersten Welt in der Falle der hoch gestiegenen Erwartungen. Trüb blicken sie auf eine Zeit zurück, in der die Hoffnungen auf Verbesserung der Lage noch nicht so rüde betrogen wurden wie jetzt. Ironischerweise meldet sich nun auch der Marxismus mephistophelisch als Interpret enttäuschter Erwartungen zurück – als ob er sich selber je die Erfüllung einer Erwartung hätte gutschreiben dürfen.
21. Juni, Wien
Ortega meinte, schöpferische Kultur befindet sich stets in einem Zweifrontenkrieg – gegen die Phrase auf der einen, gegen die Barbarei auf der anderen Seite. Was aber, wenn Phrase und Barbarei sich treffen, um gemeinsame Sache zu machen? Bis wohin solche Bündnisse gehen, läßt sich an einer Bemerkung Judith Butlers ablesen, wonach Organisationen wie Hamas und Hisbollah progressive linke Projekte darstellen.
In Current Biology berichtet der Forscher John Mitani von der University of Michigan über ein seit zehn Jahren laufendes Forschungsprojekt in Uganda, das »Affen-Außenpolitik« zum Gegenstand hat. Wenn bei Schimpansen Neigungen zum Töten von Artgenossen beobachtet werden, hängen sie meistens mit dem »Interesse« von siegreichen Horden an der Ausweitung ihrer Territorien zusammen.
Ortegas Meditationen im Escorial münden in die elegant traurige Hypothese, Cervantes
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