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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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habe mit seinem Don Quichote eine »Kritik der reinen Anstrengung« geboten. Rein ist die Anstrengung, die sich selbst verbrennt, ohne sich um ihr Ziel zu kümmern. Der hohe Elan zerfällt in Zweifel, das Ideal sinkt ermüdet zur Erde, das letzte Wort gehört »der Bitterkeit, die fragt: wozu habe ich mich geplagt?« ( Werke I , S. 375) Nach Ortega wäre die spanische Krankheit eben dies: die gegenstandslose Passion der Größe.
    In zwei- oder dreihundert Jahren könnte Europa für die Mächte von morgen sein, was Griechenland für das aufsteigende Europa war, ein mythisches Damals, mit dem Unterschied, daß die kommenden Machtkomplexe im Osten und Süden alles, was sie vom »Westen« übernommen haben, für ihre eigene Erfindung halten werden. Die heute schon überall grassierende postkoloniale Unredlichkeit läßt unmißverständlich erkennen, wohin die Reise geht.
    In tausend Jahren wird man sich an Europa erinnern wie an das Mittlere Reich am Nil. Man wird die Legende vom sozialdemokratischen Kontinent erzählen wie den Mythos von Atlantis. Philologen werden Untersuchungen zu antiken Wörtern wie »Arbeitslosengeld«, »Wohngeld« oder »Kindergeld« anstellen, als wären es Hieroglyphen an der Wand eines der Göttin »Gesellschaft« geweihten Tempels.
    Wie, wenn die europäische Kultur letztlich aus dem Wettbewerb zwischen Phraseologien hervorging? Ist nicht die johanneische These: »und das Wort ward Fleisch« die Phrase aller Phrasen? Ihr steht die nüchtern große Notiz des Aristoteles gegenüber, der Mensch sei das zoon logon echon – das Sprache-habende Tier. Wie soll man den Gegensatz der Aussagen fassen? Für den griechischen Evangelisten steht fest, der Logos müsse den in der Dunkelheit lebenden Menschen aus der Überwelt überbracht werden – ihm gilt der Mensch als das Wesen, das den Logos nicht hat. Der Aristoteliker hebt die Augenbrauen: Ihr wollt also dem Wesen, das den Logos hat, den Logos bringen, als hätte es ihn nicht?
    Die Lösung des Rätsels lautet Idealismus. Dieser spaltet »das Wort« in einen hohen Logos, der im Anfang war und von oben her die Welt besucht, und einen niederen, der unten als dumpfes Eigengeräusch des aussichtslosen Seienden umläuft, ein dumpfes und blindes Getön – noch Heideggers Hinweis auf das »Gerede« zielt auf diesen von allen guten Geistern verlassenen Diskurs im Staub. Das johanneische Christentum votiert für den steilstenIdealismus – und sorgt auf seine Weise mit dafür, die Phrase an die Macht zu bringen.
    Christlicher Idealismus war eine Voraussetzung dafür, daß man eines Tages die Heilung des phrasenkranken Geistes durch die Normalsprache verkünden konnte – was die Diktatur einer anderen Serie von Phrasen zur Folge hatte.
22. Juni, Papenburg
    Religionen, das sind Schuldgefühle mit verschiedenen Feiertagen.
    (Aus dem Netz)
    Europa bleibt der Abstiegsdynamik ausgeliefert, solange es in seinen sozialnationalen Fixierungen verharrt. Die machen es unfähig, die einzige Lösung zu wählen, die es aus seinen demographischen Verlegenheiten befreien könnte: die gesteuerte Zuwanderung von Neubürgern aus leistungsorientierten Herkunftskulturen. Der kanadische Weg ist allein noch offen. Daß dieser begangen würde, besteht keine Hoffnung, solange die Eliten des alten Kontinents noch einige silberne Jahrzehnte auf der nur leicht geneigten schiefen Ebene vor sich sehen.
    Symptomdatum der jüngeren Geistesgeschichte: Nach einem 26jährigen Prozeß wird Konrad Zuses Antrag auf ein Patent für seinen genialen Binärcomputer Z3 (1941) vom Bundespatentgericht München 1967 nach Klagen der Konkurrenzfirmen Triumph und IBM wegen »mangelnder Erfindungshöhe« definitiv abgewiesen. In diesem Urteil kondensiert sich der mürrische Mangel an Neugier, mit dem die trivialmechanische und humanistische Welt von gestern auf das digitale Zeitalter vorausblickte.
    Beim Flug nach Bremen minutenlang in eine dicke weiße Wolkenschicht eingetaucht. Psychologische Analogie – wir fliegenimmer in semantischen Wolken, unter ihnen die realen Probleme, über ihnen die losgelöste Seele.
23. Juni, Papenburg
    Insektentranszendenz: Wie voller Wunder erschiene der Ameise die Welt, könnte sie das Muster des Teppichs erkennen, über den sie krabbelt. Sie würde alles tun, um ihre Mitameisen vom intelligent design der mysteriösen Bodenbeläge zu überzeugen.
    Ein erlebnisreicher Morgen auf der Josef L. Meyer Werft, die als Familienunternehmen in sechster Generation geführt wird. Nach

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