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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Selbstgespräche, bei denen es sich den Rat gibt, sein Schicksal zu akzeptieren und Allah nicht länger zu beschimpfen. Die mahlenden Mundbewegungen des Kamels werden an höherer Stelle als Gebete gedeutet, was sich zu seinen Gunsten auswirken könnte, wären Kamele der Erlösung fähig – woran die Großen des Fachs Zweifel geäußert haben.
27. Juni, Wien
    Über die amerikanischen Kaufleute sagt Hegel, sie stünden in dem üblen Ruf, »durch das Recht geschützt zu betrügen«. Der Staat selbst sei in der Neuen Welt bislang nur ein Organ des Eigennutzes. Die Vereinigten Staaten seien noch nicht weit genug entwickelt, um das Bedürfnis des Königtums verspüren zu können! Was man dort Demokratie nennt, sei Pöbelherrschaft ohne Aufhebung des geistigen Tierreichs in den erhabenen Staat.
    Jovialität: Weltanschauung ohne Begriff, aus der Höhe, mit Wohlwollen.
    Die Aschenbecher-Theorie des Hitler-Effekts: Der spätere »Führer« sammelt die Kippen aller politischen Theorien und raucht die Reste zu Ende. In den Enden steckt das meiste Gift.
    Im Kellersalon des Café Korb geben Susanne und Peter ein rührendes Fest, zu dem 14 Gäste geladen sind. Den kulinarischenTeil bestreiten sie selbst, während Amelie und Sigi das musikalische Programm übernehmen. Vincent, Maria, Victor sind anwesend, auch Luigi, Karin, Hilde und Irene. Renate überrascht mich mit einer erotischen Marzipanskulptur von trigamistischer Tendenz.
28. Juni, Karlsruhe
    Wenn Descartes doziert, lebendige Körper seien nichts anderes als uhrwerkartige Mechanismen, weiß man anfangs nicht, ob man mehr die kontra-intuitive Kühnheit der These bewundern oder ihre begriffsgläubige Dummheit bestaunen soll. Christine von Schweden wies die Verführung durch rationalistische Zuspitzungen von sich, indem sie einwandte, noch nie habe sie eine Uhr gesehen, die kleine Uhren zur Welt bringe.
    Nach dem Vorstoß zur Gen-Technologie baut unsere Zeit den Dummheitsfaktor in Descartes’ Argument ab, indem sie einen stark erweiterten Mechanismus-Begriff ins Spiel bringt. Aus heutiger Sicht stellt die Herstellung selbstreplizierender Uhren keine unlösbare Aufgabe mehr dar.
    Nicht gerade mit Ruhm bedeckt sich Heiner Geißler, wenn er im Streitgespräch mit Erhard Eppler allen Ernstes die Behauptung vorbringt: daß Joachim Gauck Charisma besitze, spreche entschieden gegen ihn, da man in Deutschland mit Charismatikern keine guten Erfahrungen gemacht habe. Auf der Stelle hätte man von ihm verlangen müssen, Roß und Reiter zu nennen.
    Hieran ist abzulesen, wie die autohypnotischen Spiele der Mehrheitsmacher vor der Präsidentenwahl ablaufen: Auch wer es besser weiß, bereitet parteispezifische Ausreden vor, um am Tag der Abstimmung dem unredlich programmierten Gewissen folgen zu können.
    Noch einmal zum Begriff fraternité: Man soll dabei weniger an die christlichen Orden denken als an die griechischen Phratrienund Hetairien, die Gefährtenclubs, die man sich am besten als Jungkriegersportvereine bzw. als Fitnesscenter für den Polis-Nachwuchs vorstellt.
    Mit der Französischen Revolution wird der sozialethisch verbrämte Jungmännerübermut wieder auf die Bühne zitiert. Hundert Jahre, bevor die Künstler ihr l’art pour l’art verkünden, haben die militanten Franzosen als Erfinder der politischen Jugendbewegung das la guerre pour la guerre lanciert. In diese Gimpelfalle ist spät und peinlich Bernard-Henri Lévy gelaufen, als er sich in der Pose des Krieger-Denkers portraitieren ließ.
    So viel ist in uns, was dem Meer oder der Wüste gleicht. Riesige Areale liegen nach innen offen, in denen es keine lesbaren Zeichen gibt, nur endlose Wellen, mal sanfter, mal steiler. Für Psychologen, die immer etwas zum Deuten brauchen, ist das die pure Hölle.
    Die Meditierer, die den psychologisierenden Städten den Rücken kehren, wissen um so besser, warum sie hinaus wollen aufs Meer oder in die Wüste.
    Der Amerikanist Manfred Henningsen erinnert daran, wie sehr Bürger der USA sich üblicherweise gegen Erfahrungen des Elends und des unverschuldeten Scheiterns abdichten. Man ließ Hiob nicht einreisen.
    Im Süden der Staaten wurden zwischen 1880 und 1930 nicht weniger als 3200 Lynchmorde verübt. Die »prägenozidale Gesellschaft« verteidigte ihre zerbrechenden Träume gegen die Ärmsten und Schwächsten.
2. Juli, Karlsruhe
    Chinesische Redewendung für Mädchen: »verschüttetes Wasser«.
    Warum Militärs Kampfroboter bevorzugen würden: Wenn ein Roboter fällt, muß man

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