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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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dem Empfang in Bernhard Meyers hellem Büro hoch über dem Gelände führt uns sein Sohn durch die Werkshallen, wo aktuell an vier oder fünf Schiffen gebaut wird. Darunter ein riesenhaftes Luxuskreuzfahrtschiff für die Disney-Reederei, das bei einer Länge von 330 Metern – sechzig Meter mehr als die Titanic – für gut 4000 Personen Platz bieten wird.
    Nebenbemerkung: An Bord von Kreuzfahrtschiffen entstehen mehr neue große Theater, als an Land aufgrund knapper Mittel geschlossen werden. Die Meyer Werft allein baut jährlich zwei bis drei Theater in Großschiffen, ausgestattet mit Bühnentechnologie modernsten Standards. Zu jeder Stunde des Tages befinden sich weltweit mindestens eine halbe Million Menschen auf hoher See an Bord von schwimmenden Luxushotels, darunter kaum eines, das nicht ein eigenes Theater-, Musik- und Entertainmentprogramm bietet.
    Beruf: Lawn doctor an Bord eines Kreuzfahrtschiffs.
    Aus der besten Welt: Auf der Liste des Korruptionsranking ist Kasachstan von Platz 145 auf Platz 120 vorgerückt.
24. Juni, Wien
    »Chi non può quel que vuole quel que può voglia!« Leonardo da Vinci spricht die neue Konfiguration von Kunst und Willen aus, ohne die sich die Kulturgeschichte des letzten halben Jahrtausends nicht verstehen läßt. Sein hyperluzides »Wolle, was du kannst!« sagt besser, worum es den Modernen geht, als die mißglückte Großthese vom Willen zur Macht, mit der Nietzsche über das Ziel hinausschoß.
    Erfahre soeben, daß die Fondazione Cini in Venedig seit Monaten meinen Namen von der Teilnehmerliste für das Religionskolloquium im kommenden September gelöscht hat, ohne es mir mitzuteilen, obwohl ich gegenüber dem Mitorganisator meine Teilnahme vor einem halben Jahr bestätigt hatte. Bürokratenlaune? Schildbürgerstreich? Stiftungseitelkeit? Aufstand des Sekundären? Auf seinen Briefbogen zitiert Pasquale Gagliardi, der Sekretär der Fondazione, das Gustav Mahler zugeschriebene Wort von der Tradition, die nicht die Aufbewahrung der Asche sei, sondern die Weitergabe des Feuers. Unerwähnt läßt er, daß er die Seite der Aschenaufbewahrung vertritt. Die Kulturstiftungsgockel, sie bilden sich tatsächlich ein, die Schlüsselgewalt liege bei ihnen, solange sie Programme für Kolloquien drucken lassen.
25. Juni, Wien
    Filmaufnahmen für den arte-Film Marx Reloaded , den die Berliner Gesellschaft Parkafilm unter Mitwirkung von Negri, Žižek und den üblichen Verdächtigen produziert, wobei man mir den Part der nicht-marxistischen Kontraststimme zugedacht hat.
26. Juni, Wien
    Lagebestimmung, datumsgemäß. Der Philosoph ist unter der Decke eingerollt, der Autor unauffindbar, der Hochschullehrer reif für die Klinik.
    Im Jahr 1957 wurde gegenüber dem Hauptquartier der von Dscherschinski geschaffenen Mord-und-Folter-Agentur Tscheka ein Kaufhaus namens »Welt des Kindes« eröffnet – woraufhin die Moskauer Bevölkerung das Folterkellergebäude umgehend »Welt der Erwachsenen« nannte. Dscherschinski hatte 1918 eine Zeitlang die Zeitschrift Roter Terror (krasny terror) herausgegeben, in welcher er sein Talent bewies, Lenins abgründige Gedanken in Schlagzeilen zu fassen, bereit, deren Umsetzung in Torturwirklichkeit folgen zu lassen.
    Žižek gibt neue Proben radikalen Humors, indem er beim Kommunismus-Wochenende an der Berliner Volksbühne ausführt, wie die Endlösung der Judenfrage auf den Spuren von Marx auszusehen hätte: Sie bestünde in nicht mehr und nicht weniger als der »Liquidierung« des jüdischen Volkes inmitten einer postnationalen Weltvolksgemeinschaft. Daher seine Pointe: Hitler war nicht radikal genug. Da lacht das Oberseminar, und das Volksbühnenpublikum ist amüsiert. Nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung windet sich in Krämpfen.
    Ein demokratischer Pharao, der jedem Arbeiter an seiner Pyramide persönlich die Hand drückte. Wie hieß er noch?
    Regisseure, Literaten, Bildhauer, Soziologen, sie alle tragen Diktatoren in sich. Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Listen ihrer Feinde, die sie nach der Machtergreifung liquidieren ließen.
    Žižek wiederholt vor diversen Auditorien gern seinen Scherz, der Sloterdijk sei bis auf weiteres als compagnon de route der progressiven Sache gut zu gebrauchen. Nach der Revolution wäre er naturgemäß einer der ersten, die in den zweiten Gulag wanderten. Aus sentimentalen Gründen würde er, Žižek, dafür sorgen, daß man dem Sträfling einen Platz in der Küche verschafft.
    Das nervöse weiße Kamel führt

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