Zeilen und Tage
seiner Mutter keinen Brief schreiben.
Sommernacht, Strandblüten, blaue Wale.
3. Juli, Berlin
Frank-Walter Steinmeier erwartet seine Gäste, Paul Kirchhof und mich, im Jakob-Kaiser-Haus, von wo aus wir gemeinsam ins Bundestagsgebäude hinübergehen.
Die Debatte in einem Nebenversammlungsraum des Bundestags über die Frage nach der Möglichkeit einer demokratischen Neubegründung von Steuern verläuft zivilisiert-kontrovers. Wer hätte anderes erwartet? Kirchhof verteidigt den zwingend obligatorischen Charakter von Steuern, macht aber in einem vorbereiteten Arbeitspapier weitgehende Zugeständnisse an die Idee einer demokratischen Geberkultur. Es gelingt mir nicht, klarzumachen, warum bei der Gabe das verpflichtende und das spontane Moment nebeneinander und gleichzeitig existieren können.
Denkwürdig das Nachgespräch im Borchardt mit Jochen Deerberg, Weibel und Steinmeier, der als Privatperson ein Spektrum an Tönen hören läßt, die man vom Politiker selben Namens nicht kennt.
6. Juli, St. Blasien
Seit ich begonnen habe zu schreiben, schwebt mir ein Buch vor, das zeigen sollte, Wahrheit ist nicht eine Eigenschaft von Sätzen, sondern von Sommertagen.
8. Juli, Karlsruhe
Langes Interview mit Philippe Nassif für die französische Zweimonats-Zeitschrift Clés – retrouver du sens zu der Frage, was in spiritueller Hinsicht das 21. Jahrhundert ausmachen wird. Ich nenne zwei Tendenzen: Erstens, es wird eine zunehmende Reibung geben zwischen den Kulturen, die Ressourcen verschwenden und Menschen schonen, und den Kulturen, die Menschen verschwenden und ressourcenschonend leben. Zweitens, die seit der Renaissance sich ankündigende Kehre der Kulturen zur Bejahung von Welt und Leben wird sich trotz hinhaltenden Widerstands der Negativen weiter entfalten.
Blättere in dem von Nassif mit Mehdi Belhaj Kacem 2005 realisierten Gesprächeband Pop Philosophie , in dem der letztere mit vielen überklugen Pointen glänzt – er galt vor Jahren in Pariser Kreisen als eine Art von Rimbaud der Philosophie, bevor er unter den schädlichen Einfluß von Badiou geriet. Von dem Buch sagt der Herausgeber heute verlegen, es sei bavard et mégalomane. Als Selbstrezension ist das akzeptabel. Das Vorhaben macht den Eindruck eines theoretischen Trips, entsprungen aus der Ambition begabter Jugendlicher, auf einem für sie viel zu schnellen Hexenbesen zu reiten.
10. Juli, Althütte
Ab Mittag mit den Freunden auf dem Berg bis zum Anbruch der Dunkelheit, wenn die Kühe am Waldrand zu wandern beginnen. Unruhige Nacht mit Donna Promilla.
14. Juli, Karlsruhe
Herzöffnende Landschaftsbilder aus der Provence bei der Tour-de-France-Etappe von Chambéry nach Gap, mit der legendären Beloki-Armstrong-Kurve, vier Kilometer vor dem Tagesziel.
15. Juli, Karlsruhe
Im Medientheater der ZKM die erste deutsche Vorführung von Andrei Ujicas enormem Film Die Autobiographie des Nicolae Ceaus¸escu . Diskret und indiskret wie alle große dokumentarische Kunst. Drei Stunden freier Fall durch die Lügenbilderwelt eines realen Sozialismus.
19. Juli, Karlsruhe
Aus den Vorüberlegungen zum Marbacher Gespräch über das Schicksal:
Bei Chrisippos, dem Stoiker, findet sich die Doktrin, das Schicksal sei der Logos des Kosmos und es gebe einen durchgehenden »Zusammenhang aller Dinge« (syntaxis ton holon), der durch die eherne Reihe der Ursachen gebildet wird. Wer die deterministische Sicht so scharf macht, stiftet den Impuls, das Freiheitsmotiv zu retten: Daher lehnt sich bereits der antike Antifatalismus gegen die scheinbar unausweichlich zu ziehende Konsequenz auf, daß bei vollkommener Determination weder Freiheit noch Zurechenbarkeit von Handlungen zugestanden werden könnten. Folgerichtig öffnet man in der Kette der Determinationen eine Lücke, in der die Wahlfreiheit (prohairesis) wie in einer Notunterkunft hausen darf, falls kein kynisches Faß frei ist.
Bei Augustinus, der sich in puncto Prädestination weiter aus dem Fenster lehnte als jeder andere Denker der westlichen Tradition,ist der heidnische Schicksalsbegriff verpönt: nomen fati non est a fidelibus utendum. In Wahrheit ist die Prädestinationsmetaphysik des furchtbaren Nordafrikaners um vieles härter als der rigoroseste antike Fatalismus. Seine gleichzeitige Verteidigung der Freiheit dient nur dazu, den Menschen in der metaphysischen Falle zu fixieren: einerseits vorherbestimmt, andererseits frei, und somit immer zu Recht verurteilt.
Wenn Whitehead meinte, die europäische Philosophie sei eine
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