Zeilen und Tage
Erschöpfung.
Nachschlagen: Lewis Hyde, Common as Air. Revolution, Art, and Ownership , Farrar, Straus & Giroux 2010 – eine Verteidigung der cultural commons.
Skandalöses österreichisches Justizwesen: Nach dem grostesken Vorgehen der Behörden gegen Tierschützer werden nun auch Studenten und Mitarbeiter der Akademie am Schillerplatz wegen einer harmlosen Kunstaktion vor dem Wiener Arbeitsamt wochenlang in Einzelhaft festgehalten, erneut unter mißbräuchlicher Berufung auf einen obskuren Terrorismus-Paragraphen.
Beruf: Luxurologe.
26. August, Feldafing
Eine jener düsteren Hotel-Nächte, in denen der Schlaf zur Schwerarbeit wird und das Aufwachen zur Charakterprüfung. Am Morgen liegt der See harmlos in seiner Mulde vor der Gebirgskette. Der Concierge präsentiert beim Frühstück die beiden Bände des Hausbuchs, in das ich nun auch ein paar Zeilen eintragen soll.
Beim Blättern im ersten Band sieht man, wie viele Celebrities der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg sich hier verewigt haben – vom Schah von Persien in Begleitung von Farah Dibah bis zu Helmut Berger, besser bekannt als Ludwig II.
Wäre ich ein Erlebnistagebuchschreiber, welcher Festtag für das Genre hätte das werden können, da von dem Besuch bei Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady auf ihrer Landresidenz in Berg am Starnberger See zu berichten wäre, in Gesellschaft von Manfred Osten, der mit dem Sänger seit dessen Japantourneen in den achtziger Jahren freundschaftlich verbunden ist.
Die Brüder Goncourt hätten schon die Beschreibung der Anfahrt zu der versteckten Villa zu einem mikrologischen Kunstwerk gemacht – mit tiefen Einblicken in die Soziologie der Entrückten an den See-Ufern. So vieles wäre zu sagen über den großen Park mit den kunstvoll arrangierten Wasserpflanzen am Teich, die von Frau Varady energisch überwacht werden, über das schöne große Haus mit den Instrumenten und Büchern mitsamt den vom Hausherrn gemalten Bildern und den Kunstschätzen an den Wänden.
Fischer-Dieskau kam uns im großen Innenhof der Villa entgegen, in der Haltung des formsicheren Herrn auf eigenem Grund. Vom ersten Moment an weckte er den Eindruck eines melancholischen Königs auf seinem Ruhesitz, jung im Gesicht, leicht anregbar, lebhaft im Gespräch, beindruckend durch die Schönheit und Artikuliertheit seiner Sprechstimme. Mit spürbarer Freude berichtete er, er werde am folgenden Tag in München öffentliche Proben mit jungen Sängern durchführen, eine Aufgabe, die von ihm verlangt, noch jede Note, jedes Vortragszeichen auswendig zu kennen. Die Demission vom Podium, die er 1992 bekanntgab, hat er wohl nie überwunden.
Unser Gespräch glitt über eine weite Themenlandschaft dahin, ohne sich an einem bestimmten Punkt festzumachen. Unvermeidlich kam es dann und wann auf den Liedgesang zurück, wobei der Meister anmerkte, er sei des Redens über dergleichen Gegenstände müde. Als ich en passant erwähnte, ich solle da und da eine key note speech halten, fragte er arglos: Key note speech, was ist denn das?
Am ausführlichsten würde sich der Romancier dieses Tages mit der rätselhaft unmotivierten Bemerkung befassen, die Fischer-Dieskau kurz nach der ersten Begrüßung im Hof seines Hauses machte: Er habe seinen Vater nie wirklich kennengelernt – als gäbe er Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Als ich erwiderte: Es scheint mein Schicksal zu sein, Söhne ohne Väter zu »sammeln«, die vor der Wahl stehen, entweder alles Vorgefundene zu verwerfen oder sich die gesamte Kultur aus der Tiefe neu anzueignen, bemerkte Fischer-Dieskau »Bei mir gab es beides!« Er sagte dies klar und bestimmt wie in Fortsetzung eines weit zurückreichenden Gesprächs. Wir ließen das Thema auf sich beruhen, als bräuchte es keine Worte mehr, nachdem sich in einem so abgründigen Punkt ein müheloses Sichverstehen erwiesen hatte. Für wenige Sekunden hatten wir einen unbeendbaren Dialog begonnen.
Nichts rührender, als den in jeder Hinsicht großen Mann beim Abschied sagen zu hören: »Es ist kein Vergnügen, alt zu werden.«
Heft 108
27. August 2010 – 21. November 2010
27. August, Karlsruhe
Was für eine düstere Färbung der Begriff »Erlösung« annimmt, sobald man ihn auf die Verschütteten eines Grubenunglücks anwendet! Den seit drei Wochen unter der Erde gefangenen Bergleuten in Chile wurde jetzt signalisiert, man könne sie erst um Weihnachten, frühestens in drei Monaten, aus ihrem Verlies in 700 Metern Tiefe befreien, vorausgesetzt, die
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