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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Bohrmaschinen leisteten ihre Arbeit in der vorgesehenen Frist.
    Den Zuschauern stockt der Atem. Nie zuvor, scheint es, wurde die Auferstehungshoffnung an so gräßliche Bedingungen geknüpft. Was ist das Leben, daß es in manchen Fällen ein solches Wartenmüssen einschließt?
    Über Mittag ein beflügeltes Nachgespräch mit Wolfgang zu den Salzburger Ereignissen. Durch die groß angelegte Präsentation seines Werks und vor allem durch das Auftauchen der Insel »Dionysos« im Archipel Rihm hat sich die Neue Musik in Salzburg heimisch gemacht. Der einzige Mißgriff betrifft die Tonart des Lobs, das überreich gespendet wurde: Geopolitisch unkorrekt sprachen die Kulturmanager im Programmbuch von dem »Kontinent Rihm« – was zwar rühmend gemeint war, aber ein Metaphernfehler blieb. Das Weitläufige und Unabsehbare in W. R.s Werk hat nicht kontinentalen, sondern archipelagischen und insulär-vulkanischen Charakter.
28. August, Ile Rousse
    Abends nach der Ankunft in der Balagne eine lange Unterhaltung mit PW über illegitime Söhne und die kulturschöpferische Dynamik der bastardischen Position.
    Zu großen Teilen geht der Kult des Neuen auf die Illegitimen zurück, die mit ihren unerwarteten Beiträgen den trägen Zug der Erben aufstören. Man muß der Moderne somit einen dritten Unruheherd attestieren: nach dem Überbevölkerungsstress, aus dem die Nationalismen und Imperialismen folgten, und dem Kreditstress, der den Kapitalbewegungen zugrunde liegt, ist es der Illegitimitätsstress, der die »Kultur« in eine zwischen Revolte und Rechtfertigung schwingende Oszillation versetzt.
30. August, Ile Rousse
    Wenn Tolstoj versichert, er habe »sämtliche Philosophien« durchstudiert und sich von ihrer Nichtigkeit überzeugt – was hört man da, wenn nicht ein anti-intellektuelles Motto, das durch die Zeiten reist? Es gehört zum ewigen Vorrat des Ostkirchenkitschs, auf den moderne Künstler in moralischen Krisen zurückgriffen. An diesem Triller auf der Habe-nun-ach-Klaviatur erkennt man die hochmütigen Bummler, die viel probieren und nichts festhalten. Er verrät, daß der Betreffende mit der Sache des Denkens keine Sekunde in Berührung war.
    Unter diesem Gesichtspunkt ist es beunruhigend, sich daran zu erinnern, wie sehr der griesgrämige alte Tolstoj Wittgenstein in dessen jüngeren Jahren zum Vorbild diente. Mag sein, der junge Mann schlug auch unter dem Einfluß des Antiphilosophen Tolstoj um die schulische Tradition einen weiten Bogen und wollte an ihrer Stelle etwas ganz anderes, Eigenes in die Welt setzen.
    Naturgemäß war das selbsterfundene Eigene ein bastardisches Produkt – aus einem Nullpunkt gestartet und jeden Einklangmit der Tradition vermeidend. Von der Logik her in die Philosophie einzudringen ist das typische Procedere des Marginalen, der nach oben will. Schon der exemplarische Usurpator Descartes hatte mit diesem Ansatz Furore gemacht – fern von Scholastik und Kommentarkultur. Er öffnete den Unbelesenen das Tor zum voraussetzungslosen Denken, das meint, es wisse genug, wenn es nur mit sich selbst bekannt ist – was nicht zu tadeln wäre, hätte es nicht das Mißverständnis provoziert, man könne den Nullpunkt zum Standpunkt machen. Auf diesem Irrtum beruht alles, was unter dem Namen Cartesianismus bekannt wurde. Seine Attraktion basierte auf dem Versprechen an das hohe Publikum, ein Denken ohne memoria, ohne Erbe und Herkunftslast öffne den Königsweg zur Wahrheit.
    Was ist die Moderne, wenn nicht eine Sukzession von Bastardtümern? Herkunftslose knüpfen an Herkunftslosen an, und dabei entstehen Serien aus Brüchen, die man nachträglich zu einer »Geschichte« montiert.
    Von der Belastbarkeit etablierter Schulmächte macht sich einen Begriff, wer beobachtet, wie selbstverständlich sämtliche antiphilosophischen Ausbrüche der letzten Jahrhunderte heute in die Handapparate der Seminare integriert sind. Aus jeder größeren Antidynastie ist wieder eine Hofhaltung geworden. Das ist es, was Geist und Macht gemeinsam haben: Tag und Nacht arbeiten beide daran, Trugbilder der Legitimität zu restaurieren.
    Man hat Ortega y Gasset nie genug als Verfasser von anregenden Sottisen gewürdigt: zum Beispiel wenn er doziert, fast jeder Intellektuelle sei einmal leberkrank gewesen ( Werke IV , S. 190), womit er, wissentlich oder nicht, die Prometheus-Legende weiterschreibt. Beachtlich bleibt seine im Jahr 1940 notierte These über die im Zeitalter der Massenpolitik vollzogene »Entthronung des

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