Zeilen und Tage
Antwort könnte nicht platter sein, doch erscheint sie zwingend: Wer die Dinge zu illusionslos sieht, stirbt kinderlos – man denkt an Figuren wie Leopardi, Schopenhauer, Nietzsche usw. Wir stammen nicht von Männchen ab, die nach den ersten Mißerfolgen den Kopf hängen ließen. Unsere Vorfahren sind eher robuste Frohnaturen, sanguinische Schwindler oder verbissene Bastler, die immer auf die nächste Chance warteten.
Man muß also die Schöpfungsgeschichte anders erzählen. Adam war ein Handlungsreisender, der neunundvierzig Mal vergeblich klingelte und doch überzeugt blieb, an der nächsten Tür sein Zeug an den Mann zu bringen. Das ist der Anfang des heiligen Buchs vom männlichen Mißerfolg. Wir existieren, weil wir Vorfahren hatten, die aus ihren Erfahrungen nichts lernten. Diese Burschen ließen die Niederlagen an sich abtropfen wie warmen Regen über der Savanne. Biologen nennen das: Erotische Fitness aufgrund hoher Mißerfolgstoleranz. Im Alltag wird diese Haltung als Selbstüberschätzung oder als männliche Großspurigkeitkeit mißinterpretiert. Man will nicht zugeben, daß Männer auf Ausgelachtwerden, Verhöhnung und Mißerfolg genetisch besser vorbereitet sind – zumindest was die durchschnittlicheKonstitution anbelangt. Rückschläge werden von ihnen üblicherweise virtuos abgedunkelt, so daß sie nicht tiefer ins Bewußtsein eindringen – ein Sachverhalt, der heute unter dem Titel »Resilienz« neu verhandelt wird. Solange man sich weniger krank fühlt, als man der Lage nach sein sollte, ist man schon nahezu wieder gesund. Die Akteure leiden an ihren Schlappen nur dann, wenn sie öffentlich wahrgenommen und in fixierenden Zuschreibungen festgehalten werden. Biologen formulieren das Abdunklungstalent der erfolglosen Männchen so: Sie »attribuieren external«. Der Verlierer, der es immerhin versucht hat, findet stets eine Entschuldigung. Dramatisch wird seine Lage erst, wenn ihm die Entschuldigungen ausgehen.
2. März, Lausanne
Bescheidenheit, eine Art und Weise, unter der egalitären Asche die elitäre Glut zu hüten.
Nietzsches Einsicht in die Kommandogewalt der Sitten – von ihm die »Sittlichkeit der Sitte« genannt – begünstigt einen Verdacht, den auszusprechen man lange zögert: Die menschlichen Kulturen beruhen letztlich auf dem ewigen Spießertum und führen nach einer Episode hochkultureller Ausnahmen dorthin zurück. Mit dem Unterschied, daß man am Ende der Moderne Spießer vor sich hat, die nicht mehr wissen, was die hochkulturelle Sitte je von ihnen wollte. Zuletzt dominieren die Spießer, die meinen, es sei ihr angeborenes Recht, die Füße auf den Tisch zu legen.
Daß Hochkultur ein vergeblicher Umweg zur Spätkultur ist: Man hätte es schon von der frühen Völkerkunde lernen können, wären nicht die ersten Ethnologen von den Spießern am Amazonas und den Pfeil-und-Bogen-Philistern im afrikanischen Grasland so entzückt gewesen, daß sie ihnen vorkamen wie Stämme aus Vorsokratikern.
Traum: Bin in ein Becken mit flüssigem Beton gefallen, und kann mich mit Mühe freimachen, bevor er erstarrt. Noch im Halbschlaf entsteht eine Deutung des Traums, die bei Tag seltsamer wirkt als der Traum selbst: So wie der Bart des im Kyffhäusergebirge schlafenden Kaisers durch die steinerne Tischplatte hindurch wächst, muß ich bei lebendigem Leib durch eine Wand hindurch wachsen.
3. März, Lausanne
Im Amphimax der Universität, einem Raum, der eine fast todesnahe Form des calvinistischen Lebensgefühls in die kargste Form moderner Architektur übersetzt, wird mir der Charles Veillon-Preis für Essayistik überreicht. Von Martin Meyer eine großzügige Laudatio, die philosophisch respektable Maßstäbe anlegte und sich überdies rhetorisch hören ließ. Sie soll dieser Tage in der NZZ abgedruckt werden.
Tröstlich die Gegenwart Marens. Die Dankrede wird gut aufgenommen, nicht zuletzt aufgrund der vorzüglichen Übersetzung Oliviers, die bei vielen Anwesenden den Eindruck erweckte, das Stück sei vom Autor in bestem Französisch verfaßt worden. Am nächsten Morgen ein bewegendes Seminar mit Studenten der philosophischen Fakultät, die mit präzise vorbereiteten Fragen Antworten provozierten, wie ich sie nicht jeden Tag zu geben imstande wäre.
5. März, Karlsruhe
Wie ist zu reagieren auf die Einladung der Paul Valéry-Gesellschaft, etwas über ihren Helden zu verfassen? Vielleicht durch Zusammenstellung von Passagen aus alten Heften, in denen meine Version der comédie intellectuelle
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