Zeilen und Tage
und Europa seit den sechziger Jahren. Sie hätte die Wege zu beschreiben, die von den damaligen Protagonisten eingeschlagen wurden: Der eine führte in die Gefängniszellen, der andere in die post-ridiküle Deckung.
Zum Thema »post-ridikül« liefert am Abend Rüdiger einen sarkastischen Beitrag, als er von seinen Mao-Jahren in Berlin erzählt, unter diskreter Berufung auf das Irrtumsrecht der Jugend.
Nach Heidegger nennt man den Aufenthalt in der Welt als konfusionserzeugender Anstalt »die Irre«. Summarisch ist unserer Generation zu attestieren, daß sie von den späteren siebziger Jahren an eine gewisse Entirrung erreicht hat – vielleicht aber auch nur eine weniger systemhafte Form von Konfusion.
Aus den vorbereitenden Überlegungen zur Quartett-Sendung über den Darwinismus:
Der weltweite Erfolg der Psychoanalyse beruht nicht zuletzt auf der kollektiven und teilweise mutwilligen Ignorierung des Westermarck-Effekts, den man in dem Satz: »Frühe häusliche Vertrautheit zwischen Personen blockiert erotisches Begehren« zusammenfassen kann. Dieses Theorem, das von dem finnischen Soziologen, einem Zeitgenossen Freuds (er starb wie der große Rivale im September 1939), vor allem mit Blick auf Geschwisterbeziehungen entwickelt worden war, läßt sich plausibel auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausweiten. Der Mann Ödipus konnte seine Mutter nur zur Frau nehmen, weil er sie für eine Fremde hielt. Bei ihm war die erotische Neutralisierung durch Vertrautheit nicht eingetreten.
Trifft diese Beobachtung zu, kann es keinen allgemein verbreiteten Ödipus-Komplex geben, weil normale Jungen im nahen Umgang mit ihren Müttern aufwachsen und als begehrende Subjekte in der »ödipalen« Konstellation nicht in Frage kommen. Folglich wird die Ablenkung des Begehrens von der Mutter nicht durch das väterliche Verbot bewirkt – Lacans ominöses non du pèreist eine Fabel. Vielmehr geht das erotische Verlangen, wenn es erwacht, von sich aus exogame Wege, der Vater spielt bei der Ablenkung des Eros vom Primärobjekt so gut wie keine Rolle, allenfalls als Modell dafür, wie man sich als Interessent gegenüber einer weiblichen Person zu benehmen hat – und selbst das ist nicht überzeugend erwiesen, weil die meisten Väter als Liebhaber der Mütter eher eine komische Figur machten. Viel stärker fällt das väterliche Nein bei den Mädchen in patriarchalischen Familien ins Gewicht, weil es die klassische Freiheitsberaubung der Frau von Jugend auf vorwegnimmt.
Die Ausnahmen von der Westermarck-Regel bilden die von den Müttern verführten Söhne. Hätte Freud Sophokles gelesen, ohne von seinem eigenen Schema benommen zu sein, hätte er im Oidipos Tyrannos mühelos erkennen können, wie die wahren Verhältnisse liegen: Es ist die Mutter, die von Anfang an etwas ahnt, während der Sohn im dunkeln tappt und erst sehend wird, nachdem er sich vor Entsetzen geblendet hat. Mit seiner selbstverstümmelnden Geste wird Ödipus zum ersten Platoniker: Er sagt sich von der sinnlichen Wahrnehmung los, indem er die pathetischste aller möglichen Fragen stellt: Wozu Augen, wenn sie nicht einmal dazu taugen, dir zu sagen, wer deine eigene Mutter ist!
Zu einer Heraldik der Natur. Tarnfarben sind Umweltfarben, Attraktionsfarben hingegen Signal- oder Personalfarben.
Großmutter und Enkel: nicht die tiefste, aber die schönste, die humanste Beziehung auf Erden.
Was vom Inzest bleibt:
Mutter-Sohn: eigentlich absurd, doch, wenn geschehen, durch Unwissenheit zugelassen oder durch literarische und psychoanalytische Suggestionen induziert.
Vater-Tochter: zunächst nicht sehr wahrscheinlich, doch vorkommend und dann so gut wie immer gewaltsam und destruktiv.
Bruder-Schwester: spontan unmöglich, in manchen alten Dynastien als arrangierte Ehe erzwungen, bei Künstlern der Moderne als amoralische Fiktion beliebt. In der Regel erkennen sich die Geschwister – im Roman, vielleicht auch in der Wirklichkeit – erst, nachdem es passiert ist.
Mutter-Tochter: mehr als unwahrscheinlich, nur als romanhaftes bzw. pornographisches Konstrukt vorstellbar.
Das vielbeschworene universale Inzest-Tabu wäre nicht aufrechtzuerhalten gewesen, wenn nicht die von Westermarck beschriebene Erotik-Ausschaltung unter eng Zusammenlebenden für neun Zehntel der Vermeidungskausalität gesorgt hätte.
Soziobiologen werfen die Frage auf, ob und falls ja warum bei Männern eher ein Wagemut-Gen bzw. ein Optimismus-Faktor weitergereicht wird als auf der weiblichen Seite. Die
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