Zeilen und Tage
Sein-zur Rückzahlung nennen könnte, weil das antizipierende Wollen aus der moralischen Unentbehrlichkeit der Rache entspringt. Sofern der gerechte Zustand »wiederhergestellt« werden muß – und alle ursprünglichen Erzählungen handeln von Wiederherstellungen, wie wir durch die strukturalistische Mythenforschung wissen –, wird im Dasein selbst ein Prozeß des »Ausgleichs« von erlittenen Leiden in Gang gesetzt – ein Verfahren, das sich später zu dem Spiel von Darlehen und Tilgung formalisiert. Ausführlich ist in Zorn und Zeit von der zeitsetzenden Macht der äquivalenzstiftenden Rache die Rede; dort gibt es auch Hinweise auf die Speicherung des gerechten Strafzorns in politischen Banken, die man strikt analog zu den monetären Bankformen denken soll.
Die existentielle Zeit wird zudem durch Projekte der Vervollkommnung gestiftet, in denen Individuen entweder an ihrer eigenen Verfassung, mental und physisch, übend arbeiten oder sich für die Vollbringung von objektiven Werken einsetzen, an deren Gelingen sie ihre Seele hängen, seien sie künstlerischer, ethischer oder politischer Natur. Du mußt dein Leben ändern handelt von nichts anderem – vor allem in dem Abschnitt Wie der Geist der Perfektion die Übenden in Geschichten verstrickt . Dieser Gedanke wird dort in zeitlogischer Hinsicht exponiert: Der Geist der Perfektion infiziert die Existenz mit der Beziehung auf ein kritisches Wann, das unvermeidlich in der Zukunft liegt. Hier ist die Zeit eine Tochter der Antizipation und des zweiten Futurs.
Daneben spannt sich das Seil der existentiellen Zeit überall dort, wo Menschen in Gefahr »schweben«: Für diese Schwebenden enthüllt sich die Zeit im wahrsten Sinne des Worts als die »Spanne«, in welcher die Rettung kommt oder nicht kommt und in der die Genesung sich ereignet oder nicht ereignet. Niemand hat dies besser verstanden als der fast immer kranke Verfasser von Also sprach Zarathustra , der seine Deutung der Zeit als Genesungszeit bis zu dem Phantasma einer nur den Übergesunden willkommenen ewigen Wiederkehr vorantrieb.
Des weiteren wird die existentielle Zeit gestiftet durch das Hinstreben des Lebenslaufs auf einen Moment, an dem das bislang Verhüllte ans Licht gebracht wird: So läuft das Dasein des Ödipus dem Augenblick entgegen, in dem er begreifen wird, was er getan hat, als er Jokaste zur Frau nahm. Die Aufdeckung der Wahrheit hat nicht nur einen intim-existentiellen Sinn, wonach ein privates Geheimnis an den Tag gebracht wird, sie ist als Grundspannung jeder Forschung am Werk, die den Wahrheitshaushalt eines Kollektivs verändert – kulminierend in der metaphysischen Idee der apokalyptischen Aufdeckung aller Dinge – vor den Augen der Einzelnen wie vor den Augen aller. Hier ist die Zeit als die Bewegung zu verstehen, kraft welcher wesentliches und energiegeladenes Verhülltes im Guten oder Schlechten letztlich »herauskommt«.
An fünfter Stelle wird die kollektive existentielle Zeit als Geschichtszeit im verbindlichsten Sinn des Wortes gesetzt: Sie ist die Zeit, in der ein Imperium bzw. ein machttragendes Kollektiv seinem Erfolg, seinem Auftrag, seinem »Schicksal« dient. Das alteuropäische Paradigma der imperialen Zeit wird in der Aeneis exponiert, in der an entscheidender Stelle die Prophezeiung der römischen Weltherrschaft erfolgt. Für das Reich ist die Vergangenheit überaus wichtig, weil in ihr die Verheißung jetziger und künftiger Größe getätigt worden war. Die Weltmacht ist eine Tochter der Prophetie. Über die Dynamik der imperialen Zeit kann man sich bei den wenigen Autoren kundig machen, die sich zum Thema »Reich und Zeit« geäußert haben – etwa bei Niebuhr, bei Jan Assmann oder bei dem in solchen Fragen immer belastbaren Eugen Rosenstock-Huessy. Die Kritik der historischen Vernunft nimmt unvermeidlich die Form einer Kritik der imperialen Vernunft an; diese ist ohne ihr Gegenstück in einer Kritik der prophetischen Vernunft nicht zu haben.
Überblickt man die ganze Formenreihe der existentiellen Zeitstiftungen, wird evident, daß Heidegger in Sein und Zeit alle fünf wesentlichen Dimensionen der existentiellen Zeitstiftung verfehlte. Er blieb bei der pathetisch formalen Setzung des Seins-zum-Tode stehen und kam über die leere Rede von der Sorgestruktur des Daseins nicht hinaus. Er konnte den zweiten Band von Sein und Zeit nicht in Angriff nehmen, weil schon der erste mißlungen war. Der erste Teil hätte von Anfang an nicht nur formal von Endlichkeit,
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