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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Geworfenheit und Sorge handeln müssen, sondern konkret vom Ausgesetztsein des Daseins in die Dynamiken von Rache, Genesung und Vollendung. Der nie geschriebene zweite Teil wäre dem Autor spielend von der Hand gegangen, hätte er eingesehen, daß hier von der Zeit der theoretischen »Verifikation« und von der »Erfolgsgeschichte« der Reiche zu sprechen gewesen wäre, ebenso von der Expansion der christlichen Kirche, der Umma und der Sangha, sowie von der Genesis der »Weltgesellschaft«.
    Wenn man die These wiederholt, Heidegger sei der größte Denker des 20. Jahrhunderts gewesen – was vielleicht trotzdem nicht unrichtig ist –, sollte man nicht vergessen hinzuzufügen, daß Größe das Scheitern nicht ausschließt.
    Angenommen, man wollte das Dossier des Zeitproblems noch einmal öffnen, wäre für diesmal auf Fichtes unerhörte Ableitung der Zeit »ganz allein aus dem Begriff« einzugehen.
    Was sollte es denn heißen, wenn der Autor deklarierte: »Das Ich aber ist das Prinzip aller Zeit« ( Das System der Sittenlehre , 1812, S. 53)? Fichte erkannte zuerst: Das indifferente Ich lebt in leerer Zeit, es weiß nicht, was es will und läßt sich treiben (S. 59). In anderer Terminologie: Das profane Ich ist untermotiviert, unterüberzeugt, unterergriffen. »Es ist mit ihm nichts los.« Wenn aber das untermotivierte Ich mit sich ernst macht, aus welchem Anstoß auch immer, kann es zum Durchbruch einer bislang unbekannten Willenstendenz kommen. Dadurch wird das Ich in ein Organ einer unternehmerischen Kraft transformiert. Die Revolution von innen verwandelt die Existenz von Grund auf, indem sie die erfüllte Zeit evoziert: als Zeit des reinen guten Willens, der im Ich erzeugt, festgehalten und ständig erneuert wird. Hier wird zum ersten Mal erfaßt, was Heidegger später als »Entschlossenheit« und Sartre unter dem Begriff »Engagement« präsentieren werden. Die wahre vollgültige Zeit ist die Wirkungsphase der Ergriffenheit des Ich durch das unbedingt Gute, das sich auf den Weltstoff wirft.
    Fichte beobachtet den »tiefen Leichtsinn« der Zeitgenossen, die in »innerer Zerflossenheit« vor sich hin leben. Es sind diese geistig farbenblinden Weltmenschen, die sich so gern als »Schutzredner der Erbärmlichkeit« aufführen. ( Sittenlehre , S. 159) Solche Leute behaupten gern, daß alles geht. Sie gefallen sich in der Empfehlung, man möge sich selbst annehmen, wie man ist. Von ihnen sagt Fichte: Wer in sittlichen Dingen bescheiden sein will, soll dies auf seine eigene Rechnung tun, nicht auf die des Menschengeschlechts im ganzen. (S. 57)
    Es folgt die Feststellung, mit der Fichte die Situation der Religion in der Moderne definiert: Religion ist die Besessenheit des Gemüts durch die übersinnliche Welt. (S. 161) Durch solche Besessenheit – die man wohl besser Ergriffenheit nennen sollte – wird der Zeitpfeil im Ich abgeschossen.
    Wahre Gelehrsamkeit und Besessenheit/Ergriffenheit durch geistige Dinge sind demnach ein und dasselbe. Die reale Existenz einer Gelehrten-Gemeinde beweist, daß die noble Besessenheit zur Angelegenheit eines erhabenen futurisch ausgerichteten Kollektivs werden kann und soll. Dieses ist mit nicht weniger als der »Fortschöpfung der Welt« beauftragt.
    Der Ausdruck »Fortschöpfung« sollte Aufmerksamkeit erregen. Für Fichte ist »Schöpfung« als solche ein Nonsense-Begriff – ihre »Bewahrung« kommt für ihn nicht in Betracht. »Fortschöpfung« heißt: das weltlich Vorgefundene als Material unendlicher Verbesserung aufgreifen. Hier wird die Respektlosigkeit vor dem »Bestehenden« ins Grundsätzliche gewendet. Das »Bestehende« ist der eigenschaftslose Dreck, die platonische Masse ohne Eigenschaften, aus welcher der unbedingt gutgewillte Geist seine Projekte formt.
    Man erkennt hieraus zweierlei: Erstens, die Fichte-Zeit ist eine Zusammensetzung aus der zweiten und fünften Form der Existentialzeit, das heißt aus der subjektiven Vervollkommnung und dem historischen Projekt. Zweitens, man muß die ideengeschichtlichen Quellen der Leninschen Partei-Idee bis zu dem absoluten ethischen Weltverbesserungsprojekt Fichtes zurückverfolgen. Seine Vorläuferposition in bezug auf Marx und Lenin als Ideologen des revolutionären Exterminismus erhellt aus seiner einzigartig klaren Bestimmung der wahren Praxis als »Vernichtung des Hindernisses gegen die Ausführung der Weltverbesserung«. Drittens: Die größten Gewaltakte des letzten Jahrhunderts waren ihrem logischen Design gemäß nichts

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