Zeit deines Lebens
hier hab ich aber viel mehr Spaß.«
»Lou«, lachte sie, »ich weiß es zwar sehr zu schätzen, dass du seit zehn Jahren zum ersten Mal nicht ständig auf dem Sprung bist, aber du musst wirklich gehen. Klar, du hast gesagt, du schaffst es, heute Abend da zu sein, aber … «
»Ich werde da sein!«, erwiderte er ein wenig eingeschnappt.
»Okay, aber bitte komm nicht zu spät«, beendete sie ihren Satz, während sie weiter im Zimmer herumwuselte. »Die meisten Gäste deines Vaters sind schon über siebzig, es könnte also sein, dass sie eingeschlafen oder schon nach Hause gegangen sind, wenn für dich der Abend gerade erst richtig anfängt.« Sie flitzte noch einmal in den begehbaren Wandschrank.
»Ich werde rechtzeitig da sein!«, wiederholte er, mehr zu sich selbst als zu ihr.
Er hörte, wie sie in den Fächern herumwühlte und Schubladen auf- und zuschob. Dann ertönte lautes Poltern und Rumoren, als hätte sie sich gestoßen oder etwas fallen lassen, und ein lautstarkes Fluchen folgte. Doch als Ruth wieder im Schlafzimmer auftauchte, trug sie ein elegantes schwarzes Cocktailkleid.
Normalerweise hätte Lou seiner Frau in einem solchen Fall ganz automatisch gesagt, dass sie schön war, und sie dabei kaum angeschaut. Derlei Komplimente gehörten zu seinem Pflichtprogramm, denn er ging davon aus, dass Ruth sie hören wollte. Wenn er die richtigen Worte fand, würden sie schneller das Haus verlassen können und sie würde nicht die ganze Fahrt im Auto herumzappeln. Aber heute Abend verschlug es ihm schlicht die Sprache. Ruth war wunderschön. Er hatte es immer gewusst, aber plötzlich fühlte er sich, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben wirklich sehen. Warum passierte ihm das nicht jeden Tag? Völlig fasziniert rollte er sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf die Hände. Lucy machte es ihm nach, und so betrachteten sie beide das Wunder, das sich Ruth nannte. Zehn Jahre lang gab Lous Frau diese Vorführung nun schon – und er war unten herumgetigert und hatte sie womöglich auch noch angeblafft.
»Und vergiss nicht«, sagte sie, während sie vorüberging und dabei den Reißverschluss im Rücken hochzog, »vergiss nicht, dass du deinem Vater eine Kreuzfahrt zum Geburtstag geschenkt hast.«
»Ich dachte, wir schenken ihm eine Mitgliedschaft im Golfclub.«
»Lou, dein Dad hasst Golf.«
»Ach wirklich?«
»Ja, Opa hasst Golf«, bestätigte Lucy.
»Er wollte immer mal nach St. Lucia – erinnerst du dich an die Geschichte von Douglas und Ann und wie sie die Reise auf der Müslipackung gewonnen haben?«
»Nein.« Lou runzelte die Stirn.
»Das Müsli-Gewinnspiel!« Ruth hielt mitten im Flug zum Schrank inne und starrte Lou entgeistert an.
»Ja, was ist damit?«
»Er erzählt die Geschichte doch dauernd, Lou! Wie Douglas bei diesem Gewinnspiel mitgemacht hat, das hinten auf der Müslipackung stand, und die Reise nach St. Lucia gewonnen hat … Klingelt da nicht was bei dir?« Sie musterte ihn aufmerksam und hielt Ausschau nach dem Aufblitzen eines Fünkchens Erinnerung.
Aber Lou schüttelte nur weiter den Kopf.
»Wow, wie konntest du das
nicht
mitkriegen?« Sie setzte ihren Weg zum Schrank fort. »Das ist seine Lieblingsgeschichte. Da wird er ganz sentimental.«
»Dad wird nicht sentimental«, entgegnete Lou lächelnd. »Dad wird nie sentimental.«
Ruth verschwand und erschien kurz darauf wieder, einen Schuh am Fuß, den andern unter dem Arm. Rauf, runter, runter, rauf, so hinkte sie quer durchs Zimmer zur Frisierkommode.
Lucy kicherte.
Nun war der Schmuck an der Reihe – Ohrringe, Armband –, und dann zog Ruth endlich auch den anderen Schuh unterm Arm hervor und schlüpfte hinein.
Lächelnd sah Lou ihr nach, während sie ins Badezimmer stöckelte.
»Oh«, rief sie mit lauter Stimme von drinnen. »Und wenn du mit Mary Walsh sprichst, dann erwähn bitte Patrick nicht.« Sie streckte den Kopf durch die Tür. Die {258 } Hälfte ihrer Haare war noch auf den Lockenwicklern, die andere fiel ihr bereits hübsch gelockt über die Schultern. Mit traurigem Gesicht fügte sie hinzu: »Er hat sie nämlich verlassen.«
»Okay«, nickte Lou und versuchte ernst zu bleiben.
Als Ruths Kopf wieder verschwunden war, stupste er Lucy an. »Patrick hat Mary Walsh verlassen«, sagte er. »Wusstest du das?«
Lucy schüttelte heftig den Kopf.
»Hast du ihm dazu geraten?«
Sie fing an zu lachen und schüttelte abermals den Kopf.
»Wer hat dann geahnt, dass es passieren würde?«
Lucy zuckte mit den
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