Zeit deines Lebens
Leute jetzt unverzüglich einlassen.«
Wenig später trottete die Geburtstagsgesellschaft in das noble Gebäude. In der großen Lobby wärmten sich die alten Leute schon ein bisschen auf, während sie auf die Aufzüge warteten, die alle ins oberste Stockwerk bringen sollten.
»Jetzt kannst du dich entspannen, Marcia, ich hab alles geregelt«, sagte Lou zu Marcia, in dem Versuch, gut Wetter zu machen, als sie nebeneinander in der Kabine standen. In den letzten zehn Minuten, während sie die Gäste in die Aufzüge verfrachteten, hatte sie sich geweigert, ihn auch nur anzusehen, geschweige denn mit ihm zu reden.
»Ach Marcia, komm schon«, meinte er mit einem leisen Lachen. »Sei doch nicht so.«
»Lou«, erwiderte sie endlich, aber ihr Blick vertrieb sein Lächeln auf der Stelle. »Lou, ich weiß, du findest, dass ich alles dramatisiere und kontrollieren will und außerdem nerve. Was du sonst noch so über mich denkst, will ich gar nicht wissen, aber momentan dramatisiere ich überhaupt nichts. Ich bin verletzt. Nicht meinetwegen, sondern an Mummys und Daddys Stelle.« Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und ihre Stimme, die sonst immer so sanft und verständnisvoll war, veränderte ihre Tonlage radikal. {273 } »Von all den egoistischen Dingen, die ich von dir erlebt habe, steht das, was du heute Abend angerichtet hast, ungeschlagen auf Platz eins. Ich habe mich zurückgehalten und mir auf die Zunge gebissen, während du Mum und Dad für selbstverständlich genommen, deine Frau betrogen, deinen Bruder verspottet, mit seiner Frau geflirtet, deine Kinder ignoriert und mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit lächerlich gemacht hast. Ich war – wie wir alle, nebenbei bemerkt – wahnsinnig geduldig mit dir, Lou, aber es reicht. Heute Abend hast du bei mir endgültig verspielt. Du hast Mummy und Daddy wehgetan und bist nicht mehr mein Bruder.«
»Warte, warte! Moment mal, Marcia.« Er war völlig von den Socken. So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen, und er war tief getroffen. Er schluckte schwer. »Ich weiß, dass man die Leute nicht draußen hätte warten lassen dürfen, aber ich hab das in Ordnung gebracht. Wieso bist du denn auf einmal so sauer?«
Marcia lachte bitter. »Was du da draußen gesehen hast, ist ja nicht mal die Hälfte«, schniefte sie. »Überraschung!«, sagte sie matt, als die Aufzugstüren sich öffneten und der Festsaal sich vor ihnen auftat.
Der Anblick war wie ein Schlag in Lous Magen, und sein Herz wurde bleischwer. Im Raum waren Blackjack- und Roulette-Tische verteilt, und spärlich bekleidete Cocktailkellnerinnen stolzierten mit Tabletts dazwischen herum. Sicher, das sah stylish und beeindruckend aus, und Lou erinnerte sich auch sofort daran, dass die Einweihung des Gebäudes in einem ähnlichen Stil stattgefunden hatte, aber jetzt wurde ihm mit Schrecken klar, dass so etwas für seinen siebzigjährigen Vater absolut ungeeignet war. Für seinen Vater, der es hasste, im Mittelpunkt zu stehen, der {274 } es hasste, wenn Freunde und Familie sich nur seinetwegen trafen, und dessen Vorstellung von einem schönen Tag eine einsame Angelpartie war. Lous Vater war ein bescheidener Mann, dem schon der Gedanke an ein Fest zu seinen Ehren peinlich war, der sich aber zu seinem Siebzigsten von seiner Familie zum ersten Mal hatte überreden lassen, richtig groß zu feiern, mit Gästen aus dem ganzen Land. Erst hatte er das überhaupt nicht gewollt, aber mit der Zeit hatte er sich dann doch für die Idee erwärmt – und nun stand er in seinem besten Anzug in einem Casino, wo die Bedienungen Miniröcke und rote Fliegen trugen, wo ein DJ modernen Dancefloor auflegte und wo man für einen Mindestbetrag von fünfundzwanzig Euro dem Glücksspiel frönen konnte. Zu allem Überfluss thronte auf einem der Tische, mehr oder weniger verborgen zwischen Kuchen und Früchten, ein fast nackter Mann.
In einer Ecke des Raums hatte sich Lous Familie in einem betreten wirkenden Grüppchen zusammengefunden. Lous Mutter schaute sich unsicher um und umklammerte mit beiden Händen ihre Handtasche; sie war eigens beim Friseur gewesen und trug einen neuen violetten Hosenanzug mit einem adretten Halstuch. Lous Vater stand neben seinem Bruder und seiner Schwester – einer Nonne und einem Priester – und sah in dieser Umgebung verlorener aus, als Lou ihn jemals erlebt hatte. Alle blickten auf, starrten Lou an, als er hereinkam, und schauten schnell wieder weg. Der Einzige, der sich auch nur die Andeutung
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