Zeit der Eisblueten
an Sheilas Adresse hatte schicken lassen. Aber warum diese Heimlichkeiten? Warum hatte sie es ihm nicht einfach für Ian mitgegeben? Glas, Schnapsgläser, rundliche Gläser, Glasflaschen … Injektionsfläschchen. Injektionsfläschchen!
Ohne es zu wollen, trat Dafydd auf die Bremse. Trotz der Schneeketten rutschte er seitlich weg und kam dicht neben einem Graben zum Stehen. In diesem Augenblick sah er eine Herde Moschusochsen die schmale Straße zur Hütte entlangtrotten. Erstaunt setzte er sich auf, denn er wusste, dass sich die Tiere nur selten südlich der Tundra vorwagten, die rund hundert Kilometer entfernt war. Allerdings hatte er gehört, dass Wolfsrudel sie manchmal nach Süden trieben.
Fasziniert fuhr er langsam an sie heran, aber das Gerassel seiner Ketten schlug die riesigen Moschusochsen in die Flucht. Sie schlossen sich auf merkwürdige Weise zusammen, Schulter an Schulter, Flanke an Flanke, und bewegten sich wie ein einziges Tier. Das wilde, synchrone Flattern ihres langen Haarkleids glich einer dunklen Welle, die graziös wogte, während sie in dieser Formation zwischen die Bäume galoppierten. Er erinnerte sich, dass Sleeping Bear ihm einst erzählt hatte, aus einem Pfund des feinen Unterhaars lasse sich ein über sechzehn Kilometer langer Faden spinnen.
»Hast du die wunderbaren Tiere gesehen?«, fragte er Ian, nachdem er die täglichen Vorräte hineingetragen hatte.
Ian überreichte ihm den üblichen Zwanzig-Dollar-Schein, der nie die Kosten für die Einkäufe deckte, was aber durch die Benutzung des Autos ausgeglichen wurde. »Die Moschusochsen? Gott weiß, was die hier wollen. Thorn dreht durch.«
Ian goss Drinks aus einer neu gekauften Flasche ein und überreichte Dafydd ein Glas. »Du bist gestern nicht gekommen. Ich hatte deine Telefonnummer nicht, sodass ich dich nicht anrufen konnte.«
»Warum hast du nicht ins Telefonbuch geguckt oder bei der Auskunft nachgefragt? The Happy Prospector, weißt du noch?«
»Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du kommst. Dann hab ich mich volllaufen lassen, und es war mir egal.«
»Wolltest du irgendwas Besonderes haben?«
»Nee, eigentlich nicht. Ich habe mich nur daran gewöhnt, dass du jeden Tag kommst.«
Dafydd wartete auf den Moment, in dem Ian unter einem Vorwand hinausgehen und den Kofferraum durchsuchen würde.
»Wie ist es denn so, Vater zu sein?«
»Ganz in Ordnung, danke. Miranda ist reizend, aber auch quirlig. Bei Mark bin ich mir nicht sicher … Sheila sagt, dass er verhaltensauffällig ist. Weißt du irgendetwas darüber?«
»Er ist eben ein Teenager, verdammt noch mal, die sind alle verhaltensauffällig. Diese Frau glaubt, dass sie alles weiß. Sie ist hervorragend im Manipulieren und Benutzen von Menschen, aber sie hat nicht die geringste Ahnung von Menschlichkeit. Sie gleicht einem Aasfresser oder einem Vielfraß. Kanntest du ihren Spitznamen: ›die Unersättliche‹? Genau das ist sie.«
Dafydd war verblüfft über die Bitterkeit in Ians Stimme. Vielleicht hatte er ebenfalls Gründe, Sheila zu verabscheuen – andere Gründe. Jedenfalls liefen einige fragwürdige Geschäfte zwischen den beiden. Er konnte sich nicht länger beherrschen und sagte: »Ich glaube, im Kofferraum des Autos liegt ein Päckchen für dich.«
Ians Körper schoss hoch, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. »Was hat sie dir erzählt?«, fragte er scharf.
»Nichts. Ich habe nur gesehen, wie sie’s ins Auto gelegt hat.«
Ian sprang erstaunlich schnell auf und rannte nach draußen, um sofort mit dem Plastikpäckchen zurückzukehren. Er stand zögernd in der Mitte des Raumes, blickte zum Badezimmer, dann zu Dafydd, dann auf das Päckchen.
»Oh, um Himmels willen«, stieß Dafydd zornig hervor. »Was für einen Stoff habt ihr mich transportieren lassen? Los, spuck’s aus.«
»Demerol.«
Dafydd starrte ihn an. »Demerol?«
»Ich dachte, du hättest es vielleicht schon vermutet. Früher. Als es anfing. Ich hänge schon seit … Jahren dran.«
»Wie viel nimmst du?«
»Oh, etwa tausend Milligramm täglich.«
»Tausend … mein Gott! Wie bitte kommst du denn an das Zeug ran?« Dafydd kannte ein paar Ärzte, die süchtig geworden waren, sogar zwei oder drei in Cardiff. Aber über zehn Jahre … Das war eine lange Zeit, ohne erwischt zu werden.
»Ach, was soll das! Wo bewahrst du deine graue Masse auf?« Ian war gerade dabei, seinem Ärger durch eine Beleidigung Luft zu machen, aber dann erschlaffte er plötzlich und ging auf den
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