Zeit der Eisblueten
nächsten Stuhl zu. »Was glaubst du denn?«, fragte er, seufzte tief und legte den Kopf in die Hände.
»Doch wohl nicht von Sheila?«
Ian blickte auf. »Hast du das Haus gesehen, in dem sie wohnt? Und das mit dem Gehalt einer Krankenschwester? Ihre Kleidung, ihr Auto, ihre Möbel? Ganz zu schweigen von ihrem Bankkonto.« Er lehnte sich zurück und begann mühsam, das Päckchen aufzureißen. »Dann guck dir an, wie ich lebe … von dem Gehalt eines Arztes. Du brauchst doch nur zwei und zwei zusammenzählen.«
»Aber wie kommt sie damit durch? Führt denn niemand Buch?«
»Natürlich. Sie selbst. Sie hat die Gesamtverantwortung für alle Bestellungen, Medikamentenausgaben und Konten. Hast du nicht das kleine Schlüsselbund an ihrem Gürtel gesehen? Niemand außer Sheila setzt einen Fuß in die Apotheke. Selbst Hogg muss sich, wenn er etwas braucht, an sie wenden.« Er zog mit den Zähnen an der Plastikhülle. »Mir graut vor ihrem Urlaub.«
Schließlich schaffte er es, die zahlreichen Injektionsfläschchen aus ihrer Verpackung zu befreien. Sie knallten auf den Tisch und rollten in alle Richtungen. Es gelang ihm gerade noch, eines aufzufangen, bevor es auf dem Boden zerschellte. »Aber sie ist eine vorzügliche Organisatorin. Solange ich ihr was zusätzlich zahle, beschafft sie mir einen anständigen Vorrat. Bloß ist es schwierig, den einzuteilen«, meinte er lächelnd. »Mir ist es lieber, wenn sie die Sache in der Hand hat. Ich verliere zu leicht jedes Maß.«
Seine Hand schloss sich um ein Injektionsfläschchen, und reflexartig begann er bereits, seinen Ärmel hochzurollen. »Bin gleich wieder da«, sagte er und stand auf.
»Noch eine Frage.« Dafydd bemühte sich nach Kräften, keinen Sarkasmus in seiner Stimme anklingen zu lassen. »Ist das der Grund, weshalb ich dein Auto habe? Um dir oder Sheila die Fahrt zu ersparen?«
»O nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ehrlich. Normalerweise ist die Lieferung kein Problem. Aber seit ich zu Hause bin, ist es ein wenig schwierig geworden. Sie hasst die Fahrt, und die Leute werden aufmerksam. Aber da du ohnehin zu mir kommst … nun, es war ihre Idee. Eine dumme, wie sich herausgestellt hat. Es ist nicht Sheilas Art, unvorsichtig zu sein.« Er zuckte die Schultern und machte sich ins Badezimmer auf.
Einem Impuls folgend, verließ Dafydd das Haus. Mit donnerndem Gerassel der gegen das harte Eis schlagenden Schneeketten fuhr er los. Im Rückspiegel sah er, dass Thorn hinter ihm hersprang und verzweifelt bellte. Schlagartig lösten sich sein Zorn und Abscheu auf, und er hielt an, um sich von dem unglücklichen Hund zu verabschieden. Thorn blickte flehend zu ihm hoch und bat ihn, seinen Herrn nicht aufzugeben. Geh nicht. Er hat keine Freunde. Verlass ihn nicht.
Dafydd umarmte den alten Kerl und vergrub das Gesicht in dem warmen, flauschigen Nackenfell. Er hatte kein Recht, über Ian zu urteilen. Der Mann war süchtig, kein Ungeheuer. Er hatte nie herausgefunden, warum Ian nach Moose Creek gekommen war, welche Notwendigkeit oder Missetat ihn hierher gebracht hatte. Gewiss, der jüngere Ian von damals hatte leichtfertig gewirkt, sogar verantwortungslos, aber er war ein guter und fürsorglicher Arzt gewesen, der stets seinen Arbeitsanteil erledigt hatte, häufig auch mehr. Doch seine Sucht hatte von dieser Haltung nicht mehr viel übrig gelassen. Trotzdem befand Dafydd, dass es nicht seine Aufgabe war, Ians Angelegenheiten zu überwachen, sondern dass dies in die Zuständigkeit des Krankenhauses fiel.
Er wusste, dass erheblich schlimmere Leute in Moose Creek gearbeitet hatten. Janie hatte ihm einige schockierende Geschichten darüber erzählt. Ein den Tatsachen entsprechender Lebenslauf gehörte nicht zu den unabdingbaren Voraussetzungen. Außerdem wurden zur Not die Vergehen eines entlassenen Alkoholikers oder medikamentenabhängigen oder kriminell gewordenen oder einfach inkompetenten, gefährlichen oder fragwürdig qualifizierten Arztes großzügig übersehen, und man hieß ihn an diesem Ort willkommen, an dem sonst Stellen häufig so gut wie gar nicht besetzt werden konnten.
Dafydd fuhr rückwärts die Auffahrt hinauf und betrat wieder das Haus, um Ian Gesellschaft zu leisten, der sich inzwischen in einem glückseligen Rauschzustand befand.
Es tut mir leid, dass ich Deine Anrufe verpasst habe. Ich habe sehr viel zu tun. Mir ist ein neuer Auftrag angeboten worden. Paul hat vorgeschlagen, dass ich gemeinsam mit ihm eine Hotelkette in Dubai betreue. Ich
Weitere Kostenlose Bücher