Zeit der Eisblueten
rutschig oder er zu betrunken sein werde? Jemand sehr Unverschämtes.
Die Kinnlade fiel ihm vor Erstaunen hinunter, als die Verkünderin dieser Weisheit mit einem großen Schlüsselbund in der Hand die Straße entlangmarschiert kam. Martha Kusugaq hatte sich trotz der inzwischen verflossenen Jahre nicht verändert. Ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn erblickte.
»Der attraktive junge Doktor«, jauchzte sie. »Na, so was!«
»Der Doktor mag stimmen. Attraktiv und jung sei dahingestellt«, lachte Dafydd.
»Diesmal sind Sie für immer hier, nicht wahr, junger Mann? Gott weiß, wie verdammt dringend wir jemanden wie Sie brauchen«, sagte sie und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Hoffentlich lösen Sie den alten Hogg ab. Er würde es sich nie eingestehen, aber er sollte sich wirklich zur Ruhe setzen.«
»He, nicht so stürmisch, Martha. Ich bin nur zu Besuch hier. Wie geht es Ihnen denn?«
»Lassen Sie mich erst mal diese Tür öffnen, und dann erzähl ich Ihnen, was los ist.« Sie hantierte mit dem Schlüsselbund herum und probierte mehrere Schlüssel aus, bis sie endlich auf den passenden stieß.
»Nach den Schlüsseln zu urteilen, gehen Sie vielen Geschäften nach«, bemerkte Dafydd.
»Sie haben’s erfasst«, bestätigte Martha. »Mein Alter hat mich wegen eines Flittchens verlassen, und ich hab selbst einen jüngeren Mann geheiratet, einen mit echtem Ehrgeiz.« Sie sprang hinter den Tresen und nahm einen goldenen Stift in die Hand. »So, erst mal geb ich Ihnen einen fahrbaren Untersatz. Die sind alle absolut zuverlässig, das schwör ich …«
Er konnte sich nicht auf das konzentrieren, was die Kinder sagten. Mark zerrte ihn am Arm. Miranda war hinter ihnen, schob den Schlitten und rief ihnen zu, schneller zu ziehen. Die beiden redeten und schrien und lachten hemmungslos, während sie, bis zu den Oberschenkeln im Schnee, einen steilen Hang hochstapften.
»Was ist los mit dir, Dafydd?«, rief Mark. »Hast du schlechte Laune oder so?«
Dafydd war überrascht von Marks Heiterkeit. Er packte den Jungen an der Taille und warf ihn zu Boden. Aber Mark war stärker, als es den Anschein hatte, und schaffte es, ihm ein Bein zu stellen. Sie rollten ziemlich weit nach unten, bevor es ihnen gelang anzuhalten.
»Was soll das?«, schrie Miranda. »Es wird Ewigkeiten dauern, bis ihr wieder hier oben seid. Ich fahr allein los.« Sie hechtete auf den Schlitten und sauste mit hohem Tempo hinunter.
»Pass auf!«, rief Dafydd besorgt, als seine Tochter wie eine Kugel an ihm vorbeischoss, sodass er schon einen Beinbruch oder eine Halsverletzung befürchtete.
Plötzlich stürzte sich Mark auf ihn. Sie fielen erneut zu Boden und rollten und rutschten ein weiteres Stück den Hügel hinab. Der weiche Schnee füllte ihre Kragen und Ärmel. Miranda war inzwischen am Fuß des Hügels angekommen und brüllte vor Lachen.
»Schluss jetzt!«, rief Dafydd und richtete sich im Schnee auf. »Nehmt euch zusammen. Eure Mutter wird einen Anfall bekommen, wenn sie davon erfährt.«
»Es geht sie nicht das Geringste an«, erwiderte Mark forsch. »Glaubst du denn, dass sie sich einen Dreck darum schert?«
»Natürlich tut sie das.«
»Du bist ein bisschen naiv, oder?«, meinte Mark herablassend. »Für einen erwachsenen Mann.«
In dem Punkt hat der kleine Scheißer recht, dachte Dafydd, während er den Schnee aus seinem Haar klopfte und sich den Hut wieder auf den Kopf setzte. Dann sagte er: »Sie wird sich schon darum scheren, wenn ich euch mit Knochenbrüchen und Hypothermie im Krankenwagen zurückbringe.«
Sie blickten beide zu Miranda hinunter, die plötzlich reglos im Schnee lag. Mark rutschte durch den weichen Schnee nach unten und versuchte, sie hochzuheben. Miranda wog gute zehn Kilo mehr als er, und sein Unterfangen erwies sich als schwierig. Sie machte sich steif und begann zu jammern. Dafydd bemerkte, welche unterschiedliche Reife die Kinder aufwiesen. Normalerweise war es bei Jungen und Mädchen wohl umgekehrt, aber Mark glich einem mürrischen alten Mann, finster und introvertiert, während Miranda in Sekundenschnelle in ein infantiles Stadium zurückfallen konnte.
Da lag sie nun, geradezu hysterisch vor Gelächter und vorgetäuschter Qual, und strampelte wie eine Zweijährige mit den Beinen. Sie würde auskühlen, wenn ihr Körper noch lange den Boden berührte, aber Dafydd fehlte die Energie einzugreifen. Er blieb einen Augenblick lang am Abhang sitzen.
Er hatte während der langen Nacht noch nicht einmal eine ganze
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