Zeit der Eisblueten
drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück. »Ian! Drogendiebstahl ist eine Straftat. Bald hast du kein Glück mehr.«
Ian sackte zurück. »Ach, scheiß drauf! Das schadet niemandem. Und außerdem begeht Sheila den Diebstahl.«
»Wenn du das so siehst, wirst du dein Auto brauchen und dir deine Vorräte selbst besorgen müssen.«
Ian erhob sich und ging ins Badezimmer. Thorn schnüffelte an dem Fressen in seiner Schüssel und kehrte zu seinem Elchfell zurück. Dafydd blickte sich um. Die Hütte war im Zerfall begriffen. An den Stellen, an denen die Baumstämme geschrumpft waren und sich die Isolation gelöst hatte, hatten sich Eisflecken an den Wänden gebildet. Die Decke schien sich mit Wasser vollgesogen zu haben und hing durch, als werde sie jeden Moment einstürzen. Die Farbe und das Material des Teppichs waren nicht mehr zu erkennen. Er war nur noch ein geschwärzter, fettiger Lappen, abgenutzt und eingerissen.
Ian kam aus dem Badezimmer, die Augen glasig.
»Ich wundere mich, dass du überhaupt noch Venen hast«, bemerkte Dafydd bitter.
»Bitte hör auf.«
»Weißt du was, ich ruf jetzt ein Taxi.« Dafydd legte die Autoschlüssel auf den Tisch. »Ich werde dir keine Lebensmittel, keinen Alkohol und auch keine Drogen mehr bringen. Du musst dir selbst besorgen, was du brauchst. Ich werde dir nur helfen, wenn du beschließt, dir selbst zu helfen. Ich würde alles für dich tun … aber die Entscheidung liegt bei dir.«
»Ich denk darüber nach.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Ian döste apathisch auf seinem Stuhl vor sich hin, während Dafydd auf das Taxi wartete. Als es nach zwanzig Minuten vorfuhr, stand er auf und beugte sich zu Ian hinab, um in sein ausdrucksloses Gesicht zu schauen. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Gib mir dein Passwort für das Computersystem. Als stellvertretender Arzt habe ich keinen Zugang. Ich möchte etwas nachsehen.«
Ian öffnete die Augen, stand auf, suchte nach einem Stift und kritzelte eine Zahlenabfolge auf einen Fetzen Papier. Wortlos reichte er ihn Dafydd. Sie betrachteten einander einen Moment lang.
»Gib das Zeug auf, Ian … Tu’s einfach!«, sagte Dafydd eindringlich und legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes. »Es wird schwer werden, aber du kannst es schaffen. Ich komme und kümmere mich um dich. Du weißt, wo du mich erreichen kannst.«
Außer der Schreibtischlampe brannte kein Licht im Büro. Dafydd hatte die Tür hinter sich geschlossen, obwohl es unwahrscheinlich war, dass jemand in diesem Bereich des Krankenhauses zu so nächtlicher Stunde etwas zu erledigen hatte. Er schaltete den Computer ein und wartete. Als er um sein Passwort gebeten wurde, gab er die Zahlen auf dem Papierfetzen ein und überflog die Dateien, die auf dem Bildschirm auftauchten. Er klickte auf »Intensivstation« und erhielt eine Liste von Optionen. »Aufnahmegrund« kam ihm so einleuchtend wie jede andere vor. Er tippte »Bärenangriff«, und eine Namensliste erschien. Ihm pochte das Herz schwer in der Brust, während er die Namen überflog. Insgesamt waren es in den vergangenen Jahren zweiundzwanzig gewesen. Etwa in der Mitte entdeckte er ihn: Charlie Ashoona, Black River, Region Kugluktuk (Coppermine), Nunavut. Nächste Verwandte: Uyarasuq Ashoona, Mutter.
Dafydd lehnte sich zurück und starrte auf den Namen. Der leuchtende Computerschirm ließ die Buchstaben in dem dunklen Raum deutlich hervortreten. Eine bizarre Möglichkeit schoss ihm durch den Kopf: Könnte es sich um den Jungen handeln, den Joseph erwähnt hatte, um den Sohn von Sleeping Bear? War das möglich?
Dafydd las das Geburtsdatum: 5. Dezember 1993. Er konnte sich nicht hinreichend konzentrieren, um die Monate und Jahre zu berechnen. Alles verschwamm in einem Durcheinander aus Zahlen. Er nahm einen Stift, schrieb die Daten auf einen Block und erkannte, dass die Zeugung des Jungen ungefähr mit seinem und Bears Besuch in Black River zusammenfiel.
Hatten Uyarasuq und Bear … ? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Aber Bear hatte die Hälfte seiner Lebensersparnisse einem Jungen in Black River vermacht. Joseph zufolge hatte er ein Kind gezeugt … Was für ein schrecklicher Gedanke! Er dachte an die starke Zuneigung, die Bear und Uyarasuq füreinander empfunden hatten. Was wusste er schon über ihre Beziehung? Was verstand er schon von ihrer Denkweise? Seine kulturellen Vorurteile über Alter und Sex und Moral hatten dort oben in der arktischen Wildnis vermutlich keine Gültigkeit. O Gott!
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