Zeit der Eisblueten
seine Kinder seien. Sie hatte ihre Quellen. Er hatte nie herausgefunden, was für Quellen das waren, aber sie wusste es bereits seit Wochen, bevor er ihr seine Kinder auch nur vorgestellt hatte.
»Sie sind nicht der erste Mann, der sich in diese Frau verliebt hat«, meinte sie spröde. »Jemand hätte Sie warnen sollen aufzupassen.« Sie nickte bedeutungsvoll und bezog sich fraglos auf eine vernünftige Verhütung. Aber in ihren Augen lag auch Hoffnung. »Bleiben Sie hier?«
Dafydd war in seinem Innersten bewusst, dass er sie schändlich ausnutzte, doch Tillie genoss die Rolle einer Ersatzmutter. Sie hatte keine eigenen Kinder, und nun machte es ihr viel Freude, Dafydd und die Zwillinge zu bekochen und sich zu ihnen an den Tisch im Frühstückszimmer zu setzen. Miranda hatte Tillie sofort ins Herz geschlossen und liebte es, ihr in der Küche beim Backen von Keksen und süßen Brötchen zu helfen – etwas, das ihre Mutter nie getan hatte. Tillies Wohnzimmer mit dem riesigen Fernsehschirm stand ebenfalls allen zur Verfügung. Selbst Mark schien sich für sie zu erwärmen. Manchmal nahm er die Mühe auf sich, sie mit seinen schneidenden, auf trockene Art vorgebrachten Kommentaren über die menschliche Natur zum Lachen zu bringen.
Dafydd dachte über die Möglichkeiten nach, wie er dieser wunderbaren Frau ihre Freundlichkeit vergelten konnte – außer mit ihr zu schlafen und in ihr Erwartungen zu wecken, die er nicht erfüllen konnte und wollte.
»Dafydd, Sie sehen erschöpft aus«, sagte sie, als er auf ihr Sofa sackte und sich eine alberne Quizshow mit anschaute, die den Kindern offenbar gefiel. »Ich bringe Ihnen einen Gin Tonic.«
»Tillie, Sie sind ein Engel. Einen großen bitte. Und setzen Sie’s auf jeden Fall auf meine Rechnung. Schreiben Sie eine Flasche Gin drauf – in Großbuchstaben.«
Tillie lachte entzückt. »Ist’s wirklich so schlimm?«
»Wenn du dich betrinkst«, warnte ihn Miranda, »haue ich sofort ab. Ich hasse betrunkene Leute.«
Mark schaltete sich mit seiner monotonen Stimme ein, ohne das Gesicht von dem schwadronierenden Moderator der Show abzuwenden: »Dein toller Dad ist genauso eklig wie jeder andere auch, wenn er betrunken ist.«
»Woher willst du das wissen«, rief Tillie zornig. »Dein Vater betrinkt sich nicht.«
»Sie haben es nur noch nicht erlebt«, meinte Dafydd apathisch. »Mark hat recht. Ich bin ebenso schlecht wie alle anderen.«
Eine halbe Stunde später schrak er hoch. Die Uhr an Tillies Wand stand auf 16.30 Uhr. »Los, kommt, Kinder«, rief er, denn ihm fiel plötzlich ein, dass er ab fünf Uhr Bereitschaftsdienst hatte. »Erhebt euch. Ich bringe euch zu Fuß nach Hause.«
»Nein, fahr uns«, jammerte Miranda. »Mir tun die Beine weh, weil du uns den Hügel hast hochrennen lassen. Außerdem schneit es.«
»Du bist eine Flasche«, tadelte Dafydd sie. Plötzlich war er ihrer Gegenwart müde, war es müde, sich unterhalten und gesellig sein zu müssen, während er mit seinen Gedanken ganz woanders war. »Wir werden das monströse Gefährt nicht in Gang setzen, um uns vierhundert Meter die Straße entlangzubewegen. Sei vernünftig!«
Tillie hüllte alle in ihre Kleidungsstücke ein, und sie marschierten die Straße hinunter zu Sheilas Haus. Es war dunkel, aber die Straßenlaternen ließen ihr gelbes Licht auf den fallenden Schnee scheinen und gaben der Stadt ein fröhliches, frisches, weihnachtliches Aussehen. Zwei glänzende neue Schneepflüge mit grellen Scheinwerfern schoben sich stolz in jeweils eine Richtung die Hauptstraße entlang. Die mächtigen Schaufeln schabten den schnell gefrierenden Schnee wie riesige Streifen Butter von der Fahrbahn und ließen die Schichten säuberlich übereinandergestapelt in der Straßenmitte liegen.
Sheilas Haus stand dunkel da. Mark fischte seinen Schlüssel hervor und schloss die Tür auf.
»Kommt ihr klar?«, fragte Dafydd.
Mark sah ihn mit einer Miene an, die zu fragen schien: Wo sind wir deiner Meinung nach wohl in den letzten fünftausend Jahren gewesen?
»Tschüs dann.« Dafydd beugte sich vor, um mit seinen vom Frost vereisten Lippen einen Kuss auf Mirandas Wange zu platzieren, aber die stürmte schon von dannen, und die Tür knallte vor seiner Nase zu. Er blieb noch einen Moment stehen und beobachtete, wie überall im Haus das Licht angeschaltet wurde. In mancher Hinsicht waren es Dreizehnjährige, die so tun mussten, als wären sie dreiundzwanzig. Sie hatten sehr viel Übung darin, sich um sich selbst zu
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