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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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Janie im Krankenhaus an. »Hör mal«, sagte er mit eindringlicher Stimme, »stell jetzt bitte keine Fragen. Ich kann heute Nacht keinen Dienst machen. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich es nicht müsste, aber kannst du Hogg oder Lezzard oder wen auch immer anrufen? Irgendjemand muss es übernehmen.«
    »In Ordnung.« Eine vernünftige Frau, die wusste, dass sie nicht nach seinen Gründen fragen durfte. »Mach dir keine Sorgen. Atilan ist sowieso hier. Ich werde sie darum bitten.«
    Als Nächstes wählte er Ians Nummer. Während es klingelte, holte er mehrfach tief Luft, um wieder auf eine normale, freundliche Plauderebene zu gelangen.
    »Brannagan.«
    »Ich bin’s, Dafydd.«
    »Wie läuft’s denn so?«
    »Bei mir ist alles bestens. Und bei dir?«
    »Alles in Ordnung.«
    »Was passiert denn da draußen so?«
    »Nicht viel.«
    »Fütterst du deinen Hund?«
    Ian schwieg einen Moment lang. »Ja.«
    »Komm bitte in die Stadt. Ich bin im Northern. In der Bar. Leiste mir Gesellschaft. Es ist schön und ruhig hier. Wir könnten … eine Cola oder so was trinken.«
    Ian lachte laut, ganz der Alte. »Ach, zur Hölle, warum nicht? Es ist hier draußen wie ein Grab, seit du nicht mehr vorbeikommst. Ich bin gleich da.«
    Eine halbe Stunde später erschien Ian in der Bar. Er wirkte, als habe er sich tatsächlich ein wenig hergerichtet. Er trug ein Paar enge schwarze Jeans, dazu den alten Gürtel mit der Silberschnalle von damals; ferner ein sauberes weißes Hemd. Und er hatte einen Kamm durch sein Haar gezogen, das ziemlich lang geworden war und ihm über den Rücken hing. Dafydd sah plötzlich den Mann, an den er sich erinnerte. In dem dämmrigen Licht des Eingangs wirkte er immer noch schneidig, mager und schlaksig wie ein Teenager. Sein ausgezehrtes, herbes Gesicht allerdings vermittelte den Eindruck von Zerfall und Gram. Drei Frauen an einem Nachbartisch stießen einander an und taxierten ihn.
    Aus der Nähe wurde seine Krankheit jedoch erschreckend sichtbar. Seine Augen lagen tief, und seine Haut war fahl und von Falten durchzogen. Eine beginnende Leberzirrhose. Die übliche Zigarette hing locker in seinem Mund, und er rauchte mühelos ohne den Einsatz seiner Hände. Bestimmt hatte er dem Alkohol nicht abgeschworen. Sofort machte er das Zeichen für ein Bier, und als es ihm gebracht wurde, bestellte er dazu einen doppelten Jack Daniels. Dafydd schob seine Cola zur Seite und bat um das Gleiche. Jetzt empfahl sich etwas Kräftiges.
    Die Bar war dunkel und kaum besucht, und Ian schien gelöst, fast glücklich zu sein. Sie saßen in einem mit rotem Samt ausgekleideten Separee und sprachen von alten Zeiten. Dafydd tat sein Bestes, sich zurückzuhalten und nicht nachzudenken, sondern einfach eine Weile zu warten. Allmählich überließen sie sich der falschen Vorstellung, alles sei in Ordnung und sie seien lediglich gute alte Freunde, die sich gemeinsam betranken. Dennoch spürte Dafydd, wie es ihm die Kehle zuschnürte, wenn er Ians breites, unflätiges Lachen sah, und er lachte selbst ebenso laut mit, um die alles durchziehende Traurigkeit zu überdecken.
    »Ian, ich möchte dich etwas fragen«, begann er, nachdem sie in Erinnerungen geschwelgt hatten. »Es geht mir ständig durch den Kopf, und ich kann es nicht ruhen lassen. Ich habe gerade herausbekommen, dass eine Frau, die … mit der ich geschlafen habe, oben in Black River, einen Sohn hat.«
    Ian fixierte ihn, und sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig.
    »Dieses Kind«, fuhr Dafydd fort, »wurde von einem Eisbären zerfleischt und hierher ins Krankenhaus gebracht.« Dafydd schnippte mit den Fingern vor Ians erstarrtem Gesicht. »Hallo. Bist du noch da? Brannagan, verstehst du, was ich gesagt habe? Ich dachte, du würdest dich freuen … dich köstlich amüsieren. Ich muss mehr als einmal in meinem Leben einen Treffer gelandet haben. Außer bei meiner lieben Frau oder Exfrau, zu der sie sicher werden wird, wenn sie dies erfährt – nämlich dass jede Frau, der ich mich nähere, kurz darauf ein Kind erwartet.«
    Ian lachte nicht. »Was willst du wissen?«
    »Was weißt du über diesen Jungen? Er wurde Ende März dieses Jahres hierher gebracht. Hast du ihn gesehen? Du müsstest darüber informiert sein.«
    »Ja, ich erinnere mich gut an ihn.«
    »Was weiter …?« Dafydd verbarg seine kristallklare Nüchternheit hinter einem betrunkenen Lachen und stieß Ian mit der Faust an. »Erzähl mir alles darüber. Erzähl mir alles, was du über ihn weißt.«
    Der

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