Zeit der Eisblueten
da gibt es was. Der Franzmann … der Kerl aus Montreal, der hier vor Ihnen gewohnt hat, der hat mir was für mein Bein gegeben. Da hab ich was Schlimmes dran. Die ganze Zeit Schmerzen.« Der Mann krümmte sich demonstrativ, um zu zeigen, wie sehr er litt.
»Soll ich es mir mal anschauen?«
»Nee, nichts zu sehen … Es is’ drinnen … da … im Knochen, verstehn Se?«
»Was hat er Ihnen denn verschrieben?«
»O nee, so war’s nich’.« Verlegen zog der Mann die Schultern hoch. »Er fand, dass es leichter ist, wenn er das Zeug … direkt vom Krankenhaus mitbringt … Weil ich ja gleich nebenan wohn’.«
»Wie hieß das Medikament denn?«
»Valium oder so.«
»Aber das ist ein Beruhigungsmittel.« Dafydd merkte, dass das Gespräch in eine Richtung lief, in die er nicht wollte.
»Das ist in Ordnung. Es hat mächtig geholfen.«
Ich wette, dass es das hat, dachte Dafydd und fragte sich, was Dr. Odent als Gegenleistung für seine »Behandlung« dieses gesundheitlichen Wracks erhalten hatte.
»Ich glaube nicht, dass Valium Ihrem Bein tatsächlich guttut.«
»Ich hab ihm immer etwas Geld für seine Mühe gegeben.«
»Am besten kommen Sie in die chirurgische Sprechstunde.«
Der Mann fuhr zurück. »In die Chirurgie? Nein, wirklich, ich brauch da keine Operation dran.«
Dafydd unterdrückte ein Grinsen. »Ich meine, kommen Sie in die Klinik.«
»Ich geh kaum raus. Wegen der Schmerzen, verstehn Se?«
Dafydd wurde klar, dass er diese Bitte nicht das letzte Mal hören würde. Der Mann stank nach Alkohol und Schweiß, und seine dürren Hände zitterten leicht. Er sah aus wie sechzig, aber er konnte durchaus auch erst vierzig sein.
»Ich nehme Sie zur Chir… zur Klinik mit. An irgendeinem Morgen, der Ihnen passt. Und Sie können mit dem Taxi zurückfahren.«
»Ich bring Sie nach Hause, O’Reilly«, mischte sich Martha ein, die hinter der Tür stand.
Der Mann zuckte erneut zusammen. Er war von jemandem, der sich auskannte, auf frischer Tat ertappt worden.
»Na schön«, antwortete er und eilte die Verandatreppe hinunter. Kein Hinken war zu sehen.
Martha tauchte aus ihrem Versteck auf und strich mit ihren dicken Fingern heftig an ihrer Kleidung entlang, als wolle sie diese von dem Dreck befreien.
»Jetzt hatten Sie ein gutes Beispiel dafür, von welchen Leuten Sie sich besser fernhalten«, warnte sie Dafydd. »Dumm nur, dass er gleich nebenan wohnt.«
»Ich dachte, dass Sie heute Morgen mit Ihrem schlimmen Fuß vorbeikommen. Ich habe auf Sie gewartet.«
»Tja nun«, gab sie mürrisch zurück. »Manche von uns müssen sich eben für ihren Lebensunterhalt abrackern, ob Sie’s glauben oder nicht.« In der einen Hand hielt sie zwei nicht zusammenpassende Turnschuhe und unter dem anderen Arm ihre Kotzausrüstung. Sie wirkte zufrieden, als habe sie etwas Großartiges vollbracht und sei der Meinung, dass Dafydd ihr in absehbarer Zukunft etwas schulde.
»Ich nehm diese Turnschuhe mit, wenn’s Ihnen recht ist«, sagte sie und hielt ihm die verschmutzten Schuhe zur Prüfung hin.
»Ach kommen Sie«, lachte er. »Werfen Sie die in den Abfallsack. Die passen ja noch nicht mal zusammen.«
»In den Abfallsack? Sie meinen, in den Müll?«, höhnte sie. »Sie haben offenbar keinen blassen Schimmer, wo Sie sich hier befinden.« Sie stieg in ihr Auto und fuhr mit schlingernden Reifen los, auf die niedrige rote Scheibe der Sonne zu.
In dem Wohnwagen gab es weder Laken noch Decken, und Dafydd ließ sich in voller Bekleidung auf die fleckige Matratze nieder. Den Hinterkopf bettete er auf ein sauberes Handtuch, das er von zu Hause mitgebracht und auf einen zusammengefalteten Sweater gelegt hatte. Mit dem Bademantel, den er sich vor seiner Abreise in seiner Heimatstadt Swansea bei Marks und Spencer gekauft hatte, deckte er sich zu. Swansea schien Lichtjahre von diesem Dreckloch entfernt zu sein. Er schloss die Augen vor dem ständigen Licht und stellte sich die makellose Lebensmittelabteilung von M&S vor. Saubere, anständige Menschen in gut geschnittener Kleidung, die sich ordentlich und gesittet benahmen, kauften vertrauenswürdige, gut verpackte Nahrungsmittel. Ein Bild von Gesundheit, Glück und Intelligenz.
Er brach in eine laute Mischung aus Schluchzen und Gelächter aus. Dann hielt er inne. Die Wände hier waren ebenfalls dünn, und zwischen den Wohnwagen gab es keine fünf Meter Abstand. Möglicherweise hatte O’Reilly seinen wahnsinnigen Ausbruch gehört und dachte, er sei ein weiterer durchgedrehter Arzt.
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