Zeit der Eisblueten
Einer, den man schließlich doch noch mühelos herumbekommen konnte und der vielleicht am Ende selbst alles Mögliche in sich hineinschluckte. Dafydd fragte sich, ob es der Ort war, der die Menschen in die Apathie und in die Sucht trieb, oder ob es vor allem daran lag, dass der gesellschaftliche Abschaum von diesem Ort angezogen wurde. Wie auch immer, er musste sich an die letzten Überreste seiner Vernunft klammern.
Sosehr er sich dauernd bemühte, seine Schuldgefühle und seinen Verlust an Selbstvertrauen zu überwinden – das kleine Gesicht von Derek Rose tauchte immer wieder vor ihm auf. Es war jedoch kein ebenes, rundes Kindergesicht, sondern eine Art spitz zulaufender Fuchskopf, der von glattem blondem Haar eingerahmt war. Es sah so aus, als habe man ihm beim Haareschneiden einen Kochtopf übergestülpt. In diesem Moment war Sharon Rose, seine Mutter, möglicherweise zu Hause in ihrer Wohnung, die zu einer tristen städtischen Siedlung in Bristol gehörte, und pflegte ihr krankes Kind. Dafydd wünschte, sie hätte ihn und Briggs auf Entschädigung verklagt. Dann hätte sie in eine nettere Bleibe umziehen und sich vielleicht sogar ein anständiges Haus kaufen können; aber solch eine Frau war sie nicht. Man hatte ihm verboten, etwas für sie und Derek zu tun, ihnen etwas anzubieten, weil das einem Schuldeingeständnis gleichgekommen wäre.
Es spielte keine Rolle, dass die Kommission ihn »nicht schuldig« der Fahrlässigkeit oder des Fehlverhaltens befunden hatte und dass seine Suspendierung aufgehoben worden war. Er war dennoch inkompetent und verantwortungslos. Die Frage, die ständig in seinem Kopf kreiste, lautete: Soll ich tatsächlich als Arzt weiterarbeiten? Aber wie sonst konnte er seinen Lebensunterhalt verdienen? Und wo? Daheim in Wales? Sicherlich nicht so bald. Für eine sehr lange Zeit nicht. Vielleicht nie mehr.
Er fiel in einen unruhigen Schlaf, der von traurigen kleinen Kindern und einer Prozession von Männern wie O’Reilly bevölkert war, während er wild um sich schlagend in einem Meer aus Zigarettenkippen und schmutzigen Turnschuhen versank.
»Schön früh«, grinste Hogg ihn gönnerhaft an, als er Dafydd im Krankenhausflur begegnete. Er blieb stehen und hielt Dafydd mit seinen dicken, recht weiblich wirkenden Fingern am Ärmel fest. Hogg war offenbar schon eine ganze Reihe von Jahren da, aber der Akzent und das Benehmen des kleinen Mannes wirkten noch immer ganz und gar britisch, und Dafydd musste unwillkürlich lächeln.
»Ich habe Sie gestern niemandem vorgestellt … Entschuldigung. Morgen habe ich mehr Zeit.«
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, erwiderte Dafydd und lächelte erfreut über die Gelegenheit, dem Mann dessen eigene Zeitnutzungsklischees um die Ohren zu schlagen.
»Da haben Sie recht, da haben Sie recht«, stimmte ihm Hogg lebhaft zu und führte ihn den Korridor entlang. »Hier ist das Büro … Faxgerät, Fotokopierer, Krankenakten.« Hogg beschrieb mit einem Wurstfinger eine Kreisbewegung durch den schmuddeligen Raum. Darin saßen zwei rauchende Sekretärinnen, aber er verzichtete darauf, ihn vorzustellen. Dann drängte er ihn weiter den Flur entlang, als wäre Dafydd ein lästiger Schuljunge, der in der neuen Schule herumgeführt werden wollte.
»Da ist die Apotheke«, erklärte Hogg und wies im Vorbeigehen auf eine metallverstärkte Tür. »Wir halten sie verschlossen. Mit einigen Ihrer Vorgänger hatten wir ein paar Probleme, aber ich sollte besser keine Namen nennen. Drogen sind hier sehr beliebt, und zwar nicht nur zum Stillen von Schmerzen.« Er lachte und blickte Dafydd zum ersten Mal in die Augen. »Mein Gott, machen Sie sich keine Sorgen. Ich verstehe – wir alle verstehen –, wenn Ihnen dieser Ort zunächst ein wenig wie der Wilde Westen vorkommt. Ein junger Mann wie Sie, der aus einem ziemlich behüteten Umfeld kommt. Glauben Sie mir, ich weiß, wie das ist. Ich habe die gleiche Erfahrung gemacht. Als ich hierherkam, fühlte ich mich ziemlich überfordert.«
»Ich bin kein junger Hüpfer mehr«, protestierte Dafydd lachend. »Ich habe vielmehr gerade …«
Hogg hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ah, da sind wir.« Er war vor einer weiteren Tür stehen geblieben, und seine Haltung veränderte sich kaum merklich. Seine Schultern krümmten sich ein wenig stärker, und die weiblichen Züge seiner Persönlichkeit traten deutlicher hervor. Mit einem einschmeichelnden Lächeln auf den Lippen klopfte er
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